Weblog & Podcast von Volker Strübing

Thilo Sarrazin und die Meinungsfreiheit

Datum: 13.09.10
Kategorien: sarrazin, Zumutungen

Ich lese gerade “Deutschland schafft sich ab” – nachdem sogar Kloß und Spinne schon darüber diskutiert haben, möchte ich doch gerne genau wissen, worum es geht ;) Ich werde von der Lektüre hier sicher noch berichten, aber erstmal will ich es durchlesen und das kann dauern, denn mit seinen vielen Statistiken und Wiederholungen ist es nicht gerade ein Page-Turner.

Darum heute nur was zur Diskussion um das Buch. Dass es von einigen seiner Fans als Beleg einer mangelnden Meinungsfreiheit in Deutschland herangezogen wird, ist so offensichtlich hanebüchen, dass man eigentlich gar nicht darauf eingehen müsste. Es verkauft sich hunderttausendfach. Es wird überall darüber geredet und geschrieben. Dass viele der Beiträge über das Buch eine andere Meinung vertreten als die im Buch vertretene, ist Teil der Meinungsfreiheit. Und wenn jemand erklärtermaßen gern schnörkellos redet, zuspitzt und provoziert, ist es doch eigentlich ein Erfolgszeichen, wenn sich dann auch jemand provoziert fühlt.

Andererseits: Mich befällt große Fremdscham, wenn ich etwa das Bild dieses einen Demonstranten sehe, das durch alle Zeitungen und Nachrichtensendungen ging, dieser Typ mit dem “Halt’s Maul”-Plakat, wenn ich an die unsägliche Beckmann-Sendung denke, oder wenn ich im Fernsehen eine Vorschau auf eine Kabarettsendung sehe, bei der ein Florian Schröder sagt: “Thilo Sarrazin bringt Kulturen zusammen. Er ist der Beweis: Nicht nur der Islam hat hervorragende Hassprediger” – tärä, Brüller, was haben wir gelacht, das wird man doch wohl noch sagen dürfen.
Dummheit richtet sich leider nicht nach dem Standpunkt zur Integrationsdebatte.

Ich habe einige kluge oder zumindest ernsthafte Kommentare zu Sarrazins Buch und seinen Thesen gelesen – ablehnende, diffenzierende, lobende – aber insgesamt scheint das alles in einem großen Gekeife unterzugehen. “Rassist” brüllen die einen, “Gutmensch” die anderen und Meinungsfreiheit scheint so ziemlich das letzte zu sein, worum es den Brüllaffen auf beiden Seiten geht, egal wie stolz sie deren Banner vor sich her tragen.
Matthias Matussek bei Spiegel Online:

“Es ist die Wut von Leuten, die es satt haben, das Mittelalter in ihrer Gesellschaft, die einen langen und mühevollen Prozess der Aufklärung hinter sich hat, zurückkehren zu sehen. Die es satt haben, für ihre Angebote an Eingliederungshilfen beschimpft und ausgelacht zu werden. Die es satt haben, über terrornahe islamistische Vereine zu lesen, über Ehrenmorde, über Morddrohungen gegen Karikaturisten und Filmemacher oder zu hören, dass auf Hauptschulhöfen “du Christ!” als Schimpfwort benutzt wird. Die wütend zur Kenntnis nehmend lesen, dass sich westliche Staatsmänner für Frauen in einem islamischen Land einsetzen müssen, weil diese dort als Ehebrecherinnen gesteinigt werden sollen.
Merkwürdigerweise aber sind nun zumindest viele der bei uns lebenden türkischen Mitbürger – und in der “SZ” am Wochenende werden acht junge vorgestellt – nicht darüber empört, sondern über Sarrazins Buch.”

Lassen wir mal die Frage beiseite, wie oft “du Christ!” als Schimpfwort auf Hauptschulhöfen gebraucht wird (ich nehme an, seltener als “Du Kanacke / Opfer / Spast / Schlampe / Homo” und ganz sicher seltener als “Gutmensch” in der Sarazzin-Diskussion, aber da haben weder ich noch Matussek belastbares Zahlenmaterial). Was will uns Matussek mit seinem Beitrag sagen? Ich verstehe das so: In Deutschland lebende Türken sollen gefälligst die Schnauze halten, wenn über in Deutschland lebende Türken geredet wird, es sei denn, sie stellen ihrer Wortmeldung eine Erklärung über ihre Empörung über die Unrechtspraxis im Iran voran und werfen sich Asche aufs Haupt wegen doofer türkischer Hauptschüler und karikaturistenmordender Fanatiker. Dass die 8 jungen Leute in der SZ wahrscheinlich auch die Steinigung verurteilt hätten, aber eben nicht danach, sondern nach Sarrazin gefragt wurden – egal.

So. Eigentlich wollte ich jetzt noch was zum Thema “Gutmensch” schreiben, aber das muss bis morgen warten.

(VS)

11 thoughts on “Thilo Sarrazin und die Meinungsfreiheit

  1. Ich frage mich eher, was du mit deinem Kommentar zum SPON-Artikel sagen willst. „Dass die 8 jungen Leute in der SZ _wahrscheinlich_ auch die Steinigung verurteilt hätten […]“? Ja, aha.
    Dass „du Christ!“ vermutlich gar nicht so oft als Schimpfwort benutzt wird?
    Oder dass man in Deutschland lebende Türken bitte nicht mit Problemen bei der Eingliederung einiger ihrer Landsleute belästigen soll? Ist das denn nicht etwas, was uns alle angeht?

    „Dass es von einigen seiner Fans als Beleg einer mangelnden Meinungsfreiheit in Deutschland herangezogen wird, ist so offensichtlich hanebüchen, dass man eigentlich gar nicht darauf eingehen müsste.“
    Also wenn jemand wegen seiner Aussagen aus dem Job und der Partei geekelt wird (und von vielen Seiten persönlich beleidigt wird [und zwar nicht nur von so Flachpfeifen wie Florian Schröder], wobei du ja meinst, dass das auch in die andere Richtung geht, allerdings kann ich für meinen Teil vor allem von der einen Seite Verleumdungen und Überspitzungen erkennen), was ja irgendwie schon über eine sachliche Diskussion hinausgeht, wage ich es doch, leise Zweifel an einer intakten Meinungsfreiheit anzumelden. Finde ich jetzt nicht sooo offensichtlich hanebüchen.

  2. @ Einfach Toll:

    “Ich frage mich eher, was du mit deinem Kommentar zum SPON-Artikel sagen willst. „Dass die 8 jungen Leute in der SZ _wahrscheinlich_ auch die Steinigung verurteilt hätten […]“? Ja, aha.”

    Ja genau das. “Wahrscheinlich”, weil ich nicht persönlich mit ihnen gesprochen habe. Genausowenig wie Herr Matussek.

    “Oder dass man in Deutschland lebende Türken bitte nicht mit Problemen bei der Eingliederung einiger ihrer Landsleute belästigen soll?”

    Nein. Aber dass sie sich selbstverständlich auch dazu äußern dürfen müssen. Ohne jede ihrer Äußerungen mit “Ich verurteile die Steinigungen im Iran” zu beginnen.

    “Also wenn jemand wegen seiner Aussagen aus dem Job und der Partei geekelt wird”

    “Aufgrund ihrer besonderen Stellung sind die Mitglieder des Vorstandes der Deutschen Bundesbank verpflichtet, bei politischer Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus ihrer Stellung gegenüber der Gesamtheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten ihres Amtes ergeben.” (Stellungnahme der Bundesbank)
    Von Mäßigung und Zurückhaltung kann wohl keine Rede sein. Wenn er die mit seinem Amt einhergehenden Verpflichtungen verletzt, kann er dieses Amt nicht mehr bekleiden. (Man kann hier zugegebenermaßen einwenden, dass es sehr wünschenswert wäre, wenn dieses Prinzip in der Politik öfter befolgt werden würde.)
    Bei einer entsprechenden Abweichung nach links hätte ihm das selbe passieren können.

    wage ich es doch, leise Zweifel an einer intakten Meinungsfreiheit anzumelden.

    Das sei Dir selbstverständlich gestattet.
    Trotzdem kurz die Wikipedia-Definition: “Die Meinungsfreiheit, auch Redefreiheit, ist das gewährleistete subjektive Recht auf freie Rede sowie freie Äußerung und (öffentliche) Verbreitung einer Meinung in Wort, Schrift und Bild sowie allen weiteren verfügbaren Übertragungsmitteln.”
    Und das Grundgesetz, Artikel 5, Absatz 1: “Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.”

    Ich kann keinen Verstoß gegen die Definition oder den Grundgesetzartikel erkennen. Beachte: Das Grundrecht besagt nicht, dass ein Fernsehsender, eine Zeitung, ein Weblog gezwungen wären, die Meinung von Thilo Sarrazin zu verbreiten oder zu teilen. (Trotzdem muss er sich über mangelnde Verbreitung und Zustimmung nicht beklagen.)

    @Benni
    “Und warum genau soll man einen Rassisten nicht „Rassist“ nennen? Das hab ich jetzt nicht verstanden.”

    Man soll einen Rassisten natürlich Rassist nennen. Ich halte Sarrazin aber nicht für einen Rassisten – auch das Vertreten von Thesen, die Rassisten in die Hände spielen könnten, macht ihn nicht zwangsläufig selbst zu einem. Und ich bin generell vorsichtig mit solch starken Vorwürfen wie “Rassist” oder “Nazi”. Ich habe genug Leute kennengelernt, die alles rechts der SPD als Faschismus bezeichneten und denke mit Grausen daran, wie die Sozialfaschismusthese letztlich der NSDAP half.

  3. @Volker: Sarrazin mag kein Faschist sein, aber ein Rassist ist er ja trotzdem. Rassismus ist ja nicht irgendwas im rechts-links-Spektrum angeordnetes, sondern ein Rassist ist jemand der eine Rassenlehre vertritt, also soziale Gruppen anhand von Abstammung definiert. Genau das macht Sarrazin und deswegen ist er ein Rassist. Da gibt es kein Vertun. Da muss man noch nicht mal den zwar wissenschaftlich anerkannten aber im Vergleich dazu noch subtilen moderneren “kulturalistischen Rassismus” bemühen. Sarrazin ist ein guter alter Oldschoolrassist.

    Das ist übrigens auch der größte Gruselfaktor an dieser ganzen “Debatte”, dass der Rassismus auf einmal wieder salonfähig ist.

    Was den Quatsch mit dem Sozialfaschismus angeht, hast Du Recht, aber das ist ein ganz anderes Thema.

  4. @Benni: Na gut, die Sozialfaschismuskeule war vielleicht ein bisschen übertrieben, sorry.

    “ein Rassist ist jemand der eine Rassenlehre vertritt, also soziale Gruppen anhand von Abstammung definiert. Genau das macht Sarrazin und deswegen ist er ein Rassist. Da gibt es kein Vertun.”

    Ich bin mit dem Buch noch nicht durch, aber genau soetwas habe ich noch nicht darin gefunden. Sozialdarwinist: ja, Kulturkrieger: immer gib ihm!, nationalkonservativ: ja, Eugeniker: offenbar. Rassist: nein.

  5. “Ohne jede ihrer Äußerungen mit „Ich verurteile die Steinigungen im Iran“ zu beginnen.”

    Wobei “Im übrigen verurteile ich Steinigungen im Iran” kein schlechter Schlusssatz ist. Vielleicht werde ich das mal ausprobieren. Hat bei Karthago ja auch geklappt.

  6. Gut, dass der Herr Strübing das Buch wenigstens liest und danach erst kritisiert. Ich hab zwar keine Lust auf das Werk, aber mir kommts auch ein bisschen so vor, als ob die Medien da etwas einseitig sind. Im übrigen verurteile ich Steinigungen im Iran.

  7. Das mit „du Christ!“ hat der Matussek bestimmt falsch verstanden. Das passiert leicht, weil in Berlin so schlampig gesprochen wird. Es hieß bestimmt: „du krist“ als Verballhornung von „du kriegst“. Bestimmt hat jemand auf dem Schulhof sowas gesagt wie: „Watts kiekstn so? Du krist gleich wat uffe Schnauze!“

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