Weblog & Podcast von Volker Strübing

Mein schöner kalter Krieg

Datum: 8.02.15
Kategorien: Sonst so

Es war alles so klar früher. Ich wusste ganz genau, wie meine Zukunft aussehen würde. Schon im Kindergarten hatte man mir immer wieder genussvoll und detailliert beschrieben, wie ich eines Tages entweder in einem atomaren Feuerball verglühen oder langsam und qualvoll an der Strahlenkrankheit zu Grunde gehen würde.

Andererseits hieß es natürlich auch, die Zukunft, die werde uns allen ein glückseliges Leben in einer kommunistischen Welt bescheren, aber die Untergangsprognosen überwogen bei weitem – zumindest beeindruckten sie mich viel stärker. Im Mittelalter hatten die Pfaffen sicher auch mehr Erfolg mit blutrünstigen Höllenschilderungen, als mit der Propagierung eines wunderschönen, leider aber auch todsterbenslangweiligen Paradieses.

Mein Tod, so war ich überzeugt, war beschlossene Sache. Blieb die Frage, wann die Nato mich umbringen würde. Klar, das ich möglichst spät sterben wollte. Mit 12 Jahren war es meine größte Angst, eine Atombombe auf den Kopf zu bekommen, bevor ich wenigstens einmal ein Mädchen, und zwar am besten Kathrin Müller geküsst hatte. Deshalb war ich auch begeisterter Anhänger des Nato-Doppelbeschlusses, denn wenn die NATO nachrüstete, würde sie mich nicht umbringen, bevor sie damit fertig wäre. Und das sollte ein paar Jahre dauern.
Außerdem, ich gebe es zu, ein bisschen schmeichelte mir der Gedanke, dass mein Tod der NATO noch ein paar Milliarden Dollar mehr wert war. Mit der westdeutschen Friedensbewegung, die das Geld lieber für humanitäre Zwecke, den Umweltschutz und ähnliches ausgeben wollte, konnte ich damals wenig anfangen. Immer wieder wiesen im Fernsehen unrasierte, vor irgendwelchen NATO-Basen im Matsch hockende Kuttenträger daraufhin, dass man keine neuen Raketen bräuchte, weil bereits genug alte Raketen da wären, um mich zehnmal zu töten. Knauserig fand ich diese Argumentation. Wenn schon, dann wollte ich bitte schön mit neuester Technik, mit dem Feinsten vom Feinen in die Luft gejagt werden. Und zwar mindestens zwanzigmal. Denen wäre es wahrscheinlich am liebsten gewesen, man hätte mich mit einem Holzknüppel erschlagen und das gesparte Geld für Kindertagesstätten und Öko-Bauernhöfe ausgegeben.
„Du spinnst ja“, sagte Stefan Schmiedke, als wir einmal in der großen Pause von der Club-Gaststätte in der wir täglich unsere Schulspeisung erhielten und (bis auf die Joghurtbecher) sofort wieder wegschütteten zurück zur Schule gingen. „Die machen die Nachrüstung doch nich, um ausgerechnet dich umzubringen!“
„Ach nee? Warum denn dann häh? Nur zum Spaß oder was?“
„Quatsch … uns alle woll’n se umbring’!“
„Ja klar, ihr geht mit Hops, wenn sie mich am Arsch kriegen.“
Stefan beharrte auf seinem Standpunkt: „Die woll’n dich doch gar nicht am Arsch kriegen … dein Arsch interessiert die doch gar nicht.“
„Und warum dann die Atomraketen? Geh ich vielleicht nicht drauf, wenn die explodieren?“
„Jaja schon. Ich weiß bloß nicht, wie du darauf kommst, dass die extra für dich da sind … guck mal, da könnt ich genauso gut behaupten, die ganze NATO will bloß mich umbringen!“
„Klar kannste das behaupten. Aber haste Beweise?“
In diesem Moment platschte es laut und Joghurt spritzte an unsere Beine. „Atom-Alarm!“ brüllte Enrico Köhler 20 Meter hinter uns und holte schon Schwung, um den nächsten Joghurtbecher zu schmeißen. Verdammt, Stefan und ich hatten mit unserem Vorrat schon die Mädchen beworfen und konnten Enricos Erstschlag nichts entgegensetzen.
Die Vergeltung traf ihn 15 Minuten später im Bio-Raum, wo Stefan ihm den angefeuchteten Tafelschwamm, der immer so eklig nach saurer Milch roch, über mehrere Bankreihen hinweg mit der Zielgenauigkeit, einer Cruise Missile ans Ohr klatschte. Der Konflikt drohte zu eskalieren, Enrico schickte sich gerade an, konventionelle Waffen einzusetzen, aber noch ehe die Fäuste flogen, betrat unsere Klassenlehrerin den Raum und alle huschten auf ihre Plätze.
Mit der Unterrichtsstunde begann auch das heimliche Zettelschreiben. Heute dürften die WhatsApp- Massages diese Tradition abgelöst haben, damals jedoch wurde ein großer Teil der Kommunikation über kleine Zettel geführt, die unter den Bankreihen durchgegeben wurden. Häufig wurden diese verschlüsselt, denn auf das Postgeheimnis gaben die Klassenkameraden nicht allzu viel. So bekam man gelegentlich ein Briefchen von einem Kumpel, dass nach mühevoller Dekodierung die Frage „Wollen wir in der Pause Karten spielen?“ enthüllte und während man noch mit Hilfe von Tabellen und Zahlenreihen die Antwort „Okay, Mau-Mau oder Skat?“ vor neugierigen Blicken schützte, klingelte es auch schon und die Stunde war vorüber.
In jener denkwürdigen Biostunde aber erhielt ich einen Zettel, auf dem mit Mädchenhandschrift mein Name Stand. „Von Kathrin“, flüsterte mir Dirk zu, der hinter mir saß und den Zettel durchreichte.
Unverschlüsselt fragte sie an, ob ich bis morgen etwas in ihr Poesie-Album einschreiben könne, sie wolle es mir in der Pause geben.
„Okay“, schrieb ich auf einen Zettel und gab ihn durch. Argwöhnisch betrachtete ich seinen Weg durch die Bankreihen in Richtung Kathrin. Mein Argwohn war berechtigt: Enrico fing ihn unterwegs ab, faltete das Blättchen auseinander und begann grinsend, darauf herumzuschmieren. Ungeachtet der Gefahren sprang ich auf, rannte durch den Klassenraum und hieb ihm mein 30 cm Holzlineal auf den Schädel. Ich entriss ihm das Papier, auf dass er bereits einen plumpen Penis, aus dem ein paar dünne Striche spritzten gemalt hatte. „Au!“ rief er und: „Volker liebt Kathrin!“ und wir bekamen beide einen Eintrag ins Hausaufgabenheft..

*

Zu Hause saß ich den ganzen Nachmittag verzweifelt vor Kathrins Poesie-Album. Ich hatte keine Lackbilder oder Aufkleber aus dem Westen oder sonst etwas zum Einkleben und eine Idee, was ich eintragen sollte, erst recht nicht. Sie hatte mir das Buch als einem der letzten aus unserer Klasse gegeben und die üblichen Sprüche hatten schon andere eingeschrieben: „Nicht für die Schule lernen wir, sondern für das Leben“, „In allen 4 Ecken soll Liebe drin stecken“, „Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken. Nur die eine nicht, und die heißt Vergissmeinnicht“, „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heiteren Stunden nur“ und dergleichen. Einige standen schon zweimal drin.
An diesem Nachmittag wünschte ich mir, die Nato würde sofort losschlagen. Das wäre mir lieber gewesen, als Kathrin ihr Poesie-Album mit einem weiteren abgedroschenen Spruch und einem DDR-Abziehbild zurückzugeben. Eine viertel Stunde oder länger starrte ich aus dem Fenster und stellte mir vor, Kathrin und ich wären die einzigen Überlebenden eines Atomkrieges und hätten die ganze Welt für uns allein.
Und endlich hatte ich die Idee: Ich würde ihr ein Gedicht schreiben, ein Gedicht ganz für sie allein, da würden alle anderen gegen abstinken! Nach ein paar Minuten flossen die Zeilen aus meiner Feder:

Statt Glocken läuten uns Sirenen
vom Himmel stürzt ein Stern
und den möchte ich dir schenken
denn ich hab dich gern

Auf ewig schweißt er uns zusammen
Ich halte Deine Hand
Nichts kann uns zwei jemals trennen
sind wir erst Schatten an der Wand

Dazu schnitt ich aus einem glutroten Atom-Feuerball, den ich in der Armeerundschau gefunden hatte ein Herz aus und klebte es ein.

*

Als Kathrin am nächsten Tag die Blätter aus dem Poesie-Album riss, wusste ich, dass wir nicht zusammengehören. Der Weltuntergang war auch aufgeschoben, aber was nutzte das schon?

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