Weblog & Podcast von Volker Strübing

Das besoffene Internet

Datum: 5.12.07
Kategorien: Science Fiction, Weltverbesserung

Das menschliche Gehirn besteht aus ungefähr 100 Milliarden Nervenzellen.

Das Internet besteht aus ungefähr 1,3 Milliarden miteinander vernetzten Menschen bzw. ihren Computern. Das ist im Vergleich natürlich wenig, aber wenn man bedenkt, dass ein einzelner Mensch, noch dazu ein Mensch am Computer im Vergleich zu einem einzelnen Neuron ein viel komplexeres, aus Milliarden Neuronen und Millionen Bytes bestehendes informationsverarbeitendes System ist, liegt der Gedanke nahe, dass das Internet längst die Komplexität eines menschlichen Gehirns erreicht bzw. überschritten hat.

Ich finde die Vorstellung faszinierend, dass es irgendwann zu Bewusstsein erwacht. Oder schon zu Bewusstsein erwacht ist … wer weiß? Denn selbstverständlich würden wir nichts davon bemerken. Ein einzelnes Neuron, dass Signale erhält und bei Erreichung des Schwellenpotetials weiterleitet, weiß nichts davon, dass es gerade daran mitwirkt, einen Eintrag im Schnipselfriedhof zu verfassen. Und ein Mensch, der gerade einen Eintrag in sein Weblog schreibt, in einem Online-Spiel ein Monster killt oder eine wütende Email schreibt, nachdem der Ärger über andere Emails sein Schwellenpotential erreicht hat, ahnt nicht, dass er in Wirklichkeit nur von diesem neuerwachenden Bewusstsein dazu benutzt wird, den Gedanken “Ich denke, also bin ich” hervorzubringen …

Es gibt eine schöne Geschichte von Felix Bonke zu dem Thema, aber er scheint sie aus dem Netz genommen zu haben :( Mist, und ich habe sie nicht abgespeichert. Nur ein Zitat ist mir noch geblieben:

Und, liebe Science-fiction-Autoren, aufgepasst! Wenn ihr glaubt, ihr müsstet jetzt noch Bücher über den Kampf Mensch gegen Maschine schreiben, […] dann lasst euch gesagt sein: Das ist kalter Kaffee. Darüber könnt ihr höchstens einen Historienroman veröffentlichen, denn dieser Kampf ist schon mitten im Gange. Das Internet hat längst eine eigenständige Persönlichkeit erlangt und miese Tricks ausgetüftelt, wie man uns kontrollieren kann. Wie das Internet auf diese Tricks gekommen ist, ist nicht schwer zu erraten. Schließlich ist es das Internet und kann alles in sich selbst nachschauen.

Es gibt auch eine schöne unveröffentlichte Geschichte von mir zu dem Thema, daraus noch ein kurzes Zitat:

Fiat Deus

Aus einem Vortrag von XY, Berlin, 2029

Seit Jahrzehnten spekuliert man, ob sich das Netz eines Tages seiner selbst bewusst werden könnte.

Ich glaube, dass dies bereits passiert ist. Durch das Ausmaß der sozialen Vernetzung der Menschen und ihrer digitalen Diener, durch die von uns nicht mehr zu überschauenden Rückkopplungs- und Resonanzeffekte der Interaktionen wird jede Entscheidung, die der Einzelne trifft, von den Entscheidungen jedes anderen mitbestimmt. Die Bevölkerung der Union bildet eine Art neuronales Netzwerk. Ein Netzwerk höherer Ordnung, da seine einzelnen Funktionselemente selbst hochgradig komplexe, informationsverarbeitende und sich selbst bewusste Systeme sind.

Das Netz denkt. Das Netz WILL. Was, das wird uns wohl immer verborgen bleiben. Ein einzelnes Neuron wird nie begreifen, dass es zum Beispiel gerade an einem Gedicht mitarbeitet; es wird sich nie bewusst werden, dass es für etwas Größeres instrumentalisiert wird – und so können wir uns weiterhin an die Illusion des freien Willens und des Menschen als Krone der Schöpfung klammern.

Ich persönlich habe kein Problem mit der Vorstellung, dass wir uns selbst vom Thron gestoßen haben. Wir sollten stolz darauf sein, ein – man verzeihe mir – höheres Wesen geschaffen zu haben!

Am Montag habe ich mich mit Tube darüber unterhalten und es kam die hübsche Idee auf, dass man ein denkendes Internet doch eigentlich mit elektronischem Alkohol betrunken machen können müsste .(Boh! … machen können müsste … gutes Deutsch sieht anders aus). Was dann wohl passieren würde? Würde es uns beim Einloggen anpöbeln oder voller Selbstmitleid von seinen Sorgen erzählen?

Aber der Gedanke war natürlich schon im Ansatz falsch. Wenn ein Mensch betrunken ist, pöbelt er andere Menschen an und nicht seine eigenen Neuronen. Die sterben höchstens von der Sauferei, und da im Falle des Netzhirns wir selbst diese Neuronen sind, wollen wir doch nicht hoffen, dass das Internet irgendwann zu trinken anfängt …

So, ich bin jetzt mal eine brave, an ihren eigenen Willen glaubende Nervenzelle höherer Ordnung, schicke diesen Beitrag ab und schreibe ein paar Emails. Und vielleicht aktiviere ich nachher mal wieder meinen Second-Life-Account, kaufe mir dort in einer Körperboutique einen Riesenpenis und trage damit meinen Teil bei zu dem Gedanken: “Aber ohne denken war’s eigentlich schöner.”

(Volker Strübing)

PS: Siehe auch: Google Unser

17 thoughts on “Das besoffene Internet

  1. Manchmal frage ich mich, ob ein rauchender Internetfischer genüßlich an seinem Zigarettenstummel lutschend, den an den Himmel gezauberten Sonnenuntergang gar nicht bemerkend die am Tage enstandenen Löcher in seinem Internetz repariert. Dann denke ich: “Halt die Fresse, Löcher gehören in ein Netz, sonst wärs keins. Hör lieber mit dem Saufen auf, du Penner!”

    “machen können müßte” Manchmal sind es die Modalverben, die einen überhaupt noch spüren lassen können, daß man noch lebt!

  2. “Es lebt !!!”

    … sagte schon Frankenstein zu seiner Schöpfung, die er als höheres Wesen empfand.

    Wenn eines Tages das Internet zum leben erweckt wird, so vermute ich, werden wir Menschen mit den harmlosen, nach Liebe schreibenden Netz genauso umspingen wie mit der Schöpfung Frankensteins.

  3. Dein Beitrag trifft den Kern. Allerdings denke ich, dass das Internet heute im Zeitalter der (eben nicht) gemanagenten Inhalte durch die Betreiber von cms-Plattformen sehr wohl besoffen ist.

    Ich hab mal mit dem sammeln begonnen: SfgF – Screenshots für gewaltfreie Foren http://www.sfgf.wordpress.com [ vielleicht will jemand mithelfen?]

  4. Schwer zu sagen, erst recht für mich als Laie, ob das Internet zu Bewusstsein erwacht. Ihm fehlt ja sowas wie ein Körper, oder? Aber ohne einen solchen und seine Aktivitäten kann sich, glaube ich, ein Bewusstsein beim Menschen oder bei anderen Primaten gar nicht entwickeln. Aber das muss für das Internet ja nichts heißen. Wahrscheinlich ist aber auf jeden Fall, dass wenn, dass dann dieses Bewusstsein vergleichbar ist mit dem eines Kleinkindes (oder eines Hundes oder einer Topfpflanze). Und falls es, wie Bonke meint, alles in sich selbst nachschauen kann, dann befindet es sich angesichts der dominierenden Inhalte sicherlich bedauernswerterweise im Zustand der Vernachlässigung beziehungsweise Verwahrlosung. Auch weil es ja nicht mit anderen Internets kommunizieren kann, gibt ja bloß eines. Und so werden wir ihm nie bewusst werden, so wie einem Analphabeten nie seine Neuronen bewusst werden. Ach ja!

  5. WENN das Internet ein eigenes Bewußtsein haben sollte (warum auch nicht, es soll ja sogar humanoide Lebensformen geben, bei denen dies der Fall ist), warum beschäftigt es sich dann immer noch mit uns? Da gäbe es weit spannenderes zu entdecken. Im übrigen geht der Frage, wer wem den Saft abdrehen kann, zu unseren Gunsten aus. Noch…

  6. >>>„Und falls es, wie Bonke meint, alles in sich selbst nachschauen kann, dann befindet es sich angesichts der dominierenden Inhalte sicherlich bedauernswerterweise im Zustand der Vernachlässigung beziehungsweise Verwahrlosung.“

    Hallo Spider, Du hast recht, da stimmt was nicht an der Geschichte von Felix: Danach hätte es ja erst zu Bewusstsein erwachen und sich außerdem seiner Bestandteile (sprich: Menschen) bewusst werden müssen, um diese dann dazu zu bringen, als Nervenzellen für es zu arbeiten … aber die Geschichte war auch eher eine Satire auf unser eigenes Verhalten in Bezug auf das Internet und keine küchenphilosophische Spekulation ;)

    >>>„Auch weil es ja nicht mit anderen Internets kommunizieren kann, gibt ja bloß eines.“

    Soviel zum besoffenen Internet. Hat ja gar keinen, mit dem es mal einen trinken gehen kann …

    >>> „warum beschäftigt es sich dann immer noch mit uns?“

    Hallo Lordfoltermord, wie kommst Du darauf, dass es das tut? WIR beschäftigen uns im Internet mit uns, so wie sich die Zellen im Gehirn eigentlich auch nur miteinander beschäftigen. Daraus kann man aber nicht schließen, dass sich das Gehirn – bzw. das Bewusstsein – auch mit IHNEN beschäftigt. Manchmal (wie in meinem Falle gerade jetzt) tut es das vielleicht. Aber eigentlich weiß das einzelne Neuron über die Gedanken des Gehirns so wenig wie ich und Du über die Gedanken des Internets wüssten, wenn es sich denn welche machen würde.

  7. Von nichts kommt nichts.
    Das Internet kann nur deshalb ein “Bewusstsein entwickeln” weil die Menschen ein Kollektives Bewusstsein besitzen.
    Dadurch ist das Internet ein Repräsentant für das Kollektive “Bewusstsein”, ein Messinstrument … man hat über das Internet auch einen Einfluss auf dieses Bewusstsein, so wie früher die Presse, … so hat heute jeder einen größeren Einfluss darauf durch z.B. Newsblogs, Foren, Youtube etc.

  8. Scheint sich ja im Sande verlaufen zu haben die Diskussion.
    Ich habe eine neue Idee. Je umfangreicher dieses Thema vertieft wird, desto mehr Selbstbezüglichkeit wird dem Ganzen verliehen, zumal wir uns im Internet darüber unterhalten, ob ebendieses ein Bewusstsein zu entwickeln im Stande ist. Selbstbezüglichkeit in puncto Verstand ist Grundvoraussetzung für ein sich selbst reflektierendes Bewusstsein nach Immanuel Kant (Kritik der reinen Vernunft) und endet im Theleologischen (ungleich Theologischen) bei Hegel (philosophische Theorie) bzw Marx/Engels (sozialpolitische Praxis). Im Buddhismus glaubt man beispielsweise daran, dass das Universum uns erschaffen hat, um sich seiner selbst bewusst zu werden.

  9. люди добрые – помогите определиться, какая все же елка лучше: натуральная или искусственная. на одном сайте говорт одно, на втором другое. что лучше все же. этот вопрос поднят и на блоге.
    Кто что думает. Выскажите свое мнение

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