Weblog & Podcast von Volker Strübing

Ist Zivilisationskritik eigentlich eine Zivilisationskrankheit?

Datum: 17.04.11
Kategorien: super!, Weltuntergang, Weltverbesserung, Zumutungen

(Spoilerwarnung: Teile dieser Geschichte werden wohl in den nächsten Kloß-und-Spinne-Film Eingang finden!)

Nach einer Lesung in Olten tranken Micha, einige liebe Menschen und ich noch ein Bier in der Bar des Veranstaltungsortes. Ich staunte über ein altes Telefon, das an einem Pfeiler der Bar hing. Mit Wählscheibe, Münzeinwurfschlitz, grauem Hörer und allem drum und dran. Dazu wurde uns folgende Geschichte erzählt:

Einige Tage zuvor hatte ein sehr junger Mann die Barfrau gefragt, ob er mal telefonieren könne, sein Handyakku sei alle. Die Barfrau wies stumm auf das altertümliche Gerät, der Mann nickte und stand dann unschlüssig vor dem Telefon, bis die Barfrau sich erbarmte und ihm erklärte, dass er seinen Zeigefinger in das Loch mit der zu wählenden Ziffer zu stecken und dann die Scheibe im Uhrzeigersinn bis zum Anschlag zu drehen habe. Begreifen und wohl auch eine vage Erinnnerung zeichneten sich auf dem Gesicht des Mannes ab; er machte sich umgehend ans Werk, wählte sichtlich aufgeregt Ziffer um Ziffer – und hob anschließend den Hörer ab.

So siehts aus. Schon tauchen die ersten Leute auf, die nichteinmal mehr mit einem Slider-Handy mit Tasten klarkommen, sondern verzweifelt über das Display wischen, wenn man es ihnen in die Hände drückt.

Das iphone wird uns alle zu Idioten machen. Ich weiß: Das ist auch schon vom Fernsehen und tausend anderen Dingen behauptet worden, aber diesmal stimmt es!

Zu glücklichen Idioten immerhin, die niedliche Spiele mit witziger Cartoongrafik spielen, in sozialen Netzwerken vor sich hinschnattern und sich in Kneipen gegenseitig ihre tollsten Apps zeigen. Als H. G. Wells „Die Zeitmaschine“ schrieb, da schrieb er über uns, die selig über ihre Displays wischenden Eloi und die Morlocks von Apple und Co.

Liebe im Jahr 2015, wie muss man sich das vorstellen? „Hallo Mädchen, bitte streiche mir mit den Fingern über den Hosenstall, um meine Penis-App zu starten.“ – „Ja, Junge. Und dann ziehe ich den BH aus, damit du meine beiden Gefällt-mir-Buttons drücken kannst.“ – „Sehr gerne. Anschließend werde ich ein paar Megabyte genetischer Daten in deinen Uterus hochladen.“

Hör mir auf! Niemand braucht ein iphone und trotzdem brauchen alle ein iphone. Als sei menschliches Leben vor dem iphone praktisch gar nicht möglich gewesen. Die Urmenschen, die sind noch ohne sowas ausgekommen. Die hatten eine Höhle, ein Fell und genau zwei Apps: Einen faustkeil und einen angespitzten Stock, der über die beiden Funktionen „Feuermachen“ und „Mammut erlegen“ verfügte. Wer wollte, hat sich noch eine Keule gesucht und „Angry Cavemen“ gespielt.

Mark Twain schrieb: „Zivilisation ist die unablässige Vermehrung unnötiger Notwendigkeiten“ und wenn das nicht hellsichtig war, weiß ich ja auch nicht. Wer so doof ist, sich ein iphone zu kaufen, wird schnell feststellen, dass es ein Zivilisationsbooster ist, denn mit seiner Anschaffung potenziert sich die Anzahl der unnötigen Notwendigkeiten auf der Stelle. Selber schuld, wer sich so einen Scheiß ins Haus holt, kann ich da nur sagen, und ich weiß wovon ich rede!

Hab mir vor ein paar Tagen nämlich endlich selbst ein iphone gekauft. Von Samsung. Wenn Zewa Softies auch Tempotaschentücher sind, ist mein Samsung auch ein iphone. Nur viel besser. Weil es Android als Betriebssystem hat und man dafür zum Beispiel auch animierte Erotik-Bildschirmschoner runterladen kann, die es nie in Apples puritanischen Appstore schaffen würden. Nicht dass ich mir einen animierten Erotik-Bildschirmhintergrund installieren möchte, aber ich will die Möglichkeit dazu haben!

Innerhalb der ersten Stunde nach dem Einrichten lud ich vier Spiele, einen Taskmanager, einen Businesskalender, einen Traffic-Monitor und einen C64-Emulator herunter, außerdem mehrere Musik- und Videoplayer, Apps für GMX, Facebook, Wikipedia, Flickr, WordPress und Twitter, dazu diverse Wetter-, Kalender-, Batteriestatus-, Taschenlampen- und To-Do-Listen-Widgets, i-beer für Android, einen Furztongenerator, diverse Musikvideos und eine isländische Kochsendung ohne Untertitel, einen animierten Erotik-Bildschirmhintergrund (einfach nur um ein Zeichen gegen die Zensurpolitik von Big Brother Steve Jobs zu setzen), einen Schlipsknotenassistent, einen interaktiven Makramee-Kurs, ein Kirgisisch-Wörterbuch, ein finnisches Reimlexikon und natürlich die allernötigste unnötige Notwendigkeit: So ein Programm, mit dem man Fotos machen kann, die dann wie alte Polaroids oder so aussehen.

Und mit dem fotografierte ich in der folgenden Stunde eine Blume und eine Wolke und eine Wand, deren Putz bröckelte und ein „Fickt das System“-Grafitto, einen weggeworfenen Regenschirm, eine nackte Schaufensterpuppe,eine Oma, einen Mann, der ins Gebüsch pinkelte, diverse vorbeilaufende Frauenbeine, noch eine Wand mit bröckelndem Putz, meine Füße, einen Fahrkartenautomaten, einen Hund, einen Hundehaufen, ein umgekipptes Fahrrad, einen vollen Aschenbecker, eine Bratwurstbude, einen Zaun, eine überfahrene Taube, die ich mit der Bildunterschrift „Warum?“ versah und noch einiges mehr, und alles sah automatisch aus wie ganz große Kunst, und dann habe ich den ganzen Quatsch bei Facebook, Flickr, WordPress und jeder anderen Datenmüllkippe, die ich finden konnte hochgeladen, aber da war schon alles voll mit solchem Mist, und es hat niemanden interessiert. Und daraufhin habe ich mir hinter einer Hecke die Hose runtergezogen und meinen Hintern fotografiert mit so einem Tilt-Effekt, wo alles aussieht wie eine Modellbahnanlage, und dafür gab es dann immerhin zwei oder drei „Gefällt mir“-Klicks.

Dann habe ich noch ein halbes Stündchen mit dem Furztongenerator gespielt, der wirklich sehr, sehr gut ist und über diverse Einstellmöglichkeiten verfügt. Anschließend habe ich verzweifelt versucht, die Onlinebezahlfunktion einzurichten, weil ich mir die Vollversion des  animierten Erotik-Bildschirmhintergrundes kaufen wollte, da die Gratisversion nur drei Damen enthält, scheiterte aber. Frustriert steckte ich das iphone weg, holte mein Schreibheft und meinen Füllfederhalter aus der Tasche, schrieb diese Geschichte und kam genau bis zu dieser Stelle …

Aber mir wollte und wollte kein Ende einfallen. Wie gut, dass ich ein iphone hatte! Ich startete Facebook und schrieb: „Hat mal rasch jemand ein gutes Geschichten-Ende für mich?“

Und schon trudelten die Vorschläge ein. „.“ von Tim, „Ich danke meiner Mutter“ von Frau Schnickschnack, „… woraufhin er explodierte“ (Marvin), „Rumsdibums. Und Ende.“ (Andreas), Sids „Er ließ den Motor laufen und stieg aus“ oder „Keine Hände, keine Kekse“ von Dan und das hochdramatische „Bleich wie ein ausgetrockneter Knochen starrte er auf sein Spiegelbild und erschrak – so konnte es doch nicht enden!“ von Daniela.

Aber irgendwie schienen sie mir alle nicht so recht zu passen. Nachdenklich schaltete ich mein iphone aus, der Bildschirm wurde schwarz. Bleich wie ein ausgetrockneter Knochen starrte ich auf mein Spiegelbild im Display und erschrak – so konnte es doch nicht enden!

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(VS)

3 thoughts on “Ist Zivilisationskritik eigentlich eine Zivilisationskrankheit?

  1. ach leute die keine wählscheibe bedienen können sind nicht mehr oder weniger idioten als leute die nicht mit nem touchpad umgehen können.
    nur weil das eine mal vor 20-30jahren verbreitet war is das doch noch lange nicht wichtiger/besser.
    trotzdem schöne geschichte und ich versuch bei der nächsten kloß und spinne folge trotzdem überrascht zu tun wenn das thema angeschnitten wird.

  2. Zivilisation heißt doch, dass es nicht mehr ums Brauchen geht. (Sätze, die ich mir auf ein Messingschildchen prägen sollte, um sie jeden Tag polieren zu können)

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