Weblog & Podcast von Volker Strübing

Hammerwerfer und Bogenschützen

Datum: 21.12.12
Kategorien: Literatur / Lesebühne / Poetry Slam

Es ist allgemein akzeptiert, dass Musiker Musikstücke schreiben, die dann auf Konzerten gespielt und als mp3 zum Download angeboten werden, dass Maler Bilder malen, die dann in einer Ausstellung gezeigt werden, dass Bäcker Brötchen und Kuchen backen, die dann in der Bäckerei verkauft werden. Niemand würde einen Musiker fragen, ob er ein Konzert und mp3-Musik schreibt, einen Maler, ob er eine Ausstellung malt, einen Bäcker, ob er eine Bäckerei bäckt.

Autoren werden allerdings manchmal gefragt, ob sie ein Buch schreiben, und wenn sie dann mit „Ja“ antworten, reicht diese Antwort vielen Leuten aus, als sei alles, was zwischen zwei Buchdeckeln steckt, dasselbe. Beim Poetry Slam begegnet man dieser Gleichsetzung von Botschaft und Kanal besonders häufig. Das ist nicht weiter schlimm. Es ist nun einmal eine relativ neue Sache, die noch dazu eigentlich nicht zusammengehörende Sachen wie Lesung und Show bzw. Literatur und Sport zusammenbringt, das kann schon verwirren. „Nein, ich schreibe keine Slams, auch keine Slam Poetry, ich schreibe Texte und trage sie unter anderem auf Slams vor“, erkläre ich dann und hoffe, verstanden zu werden

Poetry Slam ist keine Literaturgattung, keine Literaturströmung, sondern eine Veranstaltungsform, in der Platz für jede Art von Text ist, solange er selbstgeschrieben und nicht länger als 5 Minuten ist. Es ist wie eine Sportveranstaltung, bei der Hammerwerfer, Sprinter, Schachspieler, Bogenschützen, Stabhochspringer, Zauberwürfler, Ruderer, Gewichtheber, Dice Stacker, Kunstturner, Turmspringer gegeneinander antreten, dazu gelegentlich jemand mit einer ganz neuen, selbst erfundenen Sportart wie Gummibärchenweitkotzen oder Selbstzerstörung oder Bärenkatapultieren. Kein Mensch kann das ernsthaft miteinander vergleichen wollen, und trotzdem wird ein Sieger ermittelt – um dem Chaos eine Dramaturgie zu geben.

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(Symbolbild Gummibärchenweitkotzen)

Ein Poetry Slam ist eine genreoffene Lesebühne mit Showelementen. Eine Veranstaltungsform. Ein Podium. Boris Preckwitz, einst ein Pionier der Szene in Deutschland, schrieb in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung: „Slam ist ein Phänomen des literarischen Lebens, aber keine Strömung der Literatur“, er unterscheide sich „von genuin literarischen Bewegungen durch die Abwesenheit einer Poetik“. Das ist erstens richtig und zweitens ein Glück. Poetry Slam darf nicht „eine Poetik“ haben, sondern soll Platz bieten für die ganz persönlichen Poetiken (bzw. deren Fehlen) jedes einzelnen Teilnehmers. Boris Preckwitz aber beklagt, „dass der Slam nie in der Lage war, sich programmatisch zu artikulieren.“

Der ganze Artikel ist voller durchaus richtiger Beobachtungen, aus denen Schlüsse gezogen und Vorwürfe konstruiert werden, die ich nicht verstehe. Slam hat sich nicht programmatisch artikuliert? Na und? Jede festgeschriebene Poetik oder Programmatik geht zu Lasten der Offenheit.

Man kann natürlich die Offenheit selbst als Problem sehen, denn sie hat den Poetry Slam für das Böse und Banale geöffnet: „Storyteller und Comedians“. Es stimmt schon: Lyrik spielt trotz des Namens eine relativ kleine Rolle und meist gewinnen lustige Texte. Um beim Bild von oben zu bleiben: Hammerwerfer und Bärenkatapultierer sind im Schnitt erfolgreicher als Bogenschützen oder Schachspieler. Wenn man denn den Erfolg am Sieg bei Poetry Slams festmachen will.

Ja, es wird viel gelacht bei Poetry Slams und das ist scheinbar immer noch ein Problem für Leute, die Kultur in gut und schlecht, respektive E und U einteilen. Humor muss entweder aus England, Amerika oder Skandinavien importiert, als politisches Kabarett etikettiert oder Müll sein. Stell dich auf eine Bühne und bring Leute zum Lachen und manche Leute nehmen dich nur noch als Witzeerzähler war: „Kaum waren Slam-Bühnen Teil urbaner Unterhaltungskultur geworden, lockten sie Kleinkünstler, die sich das gewerbsmäßige Witzereißen im Stil des Comedy-TV zum Vorbild nahmen.“ Oh Mann. Ja, es kommt vor, dass sich Leute mit Stand-Up-Comedy auf eine Slam-Bühne stellen. Da ist zum Glück niemand, der die Texte der Auftretenden vorher auf gesellschaftliche Relevanz und kulturellen Wert prüft. Dafür wird „Witzereißen im Stil des Comedy-TV“ fast immer vom Publikum abgestraft. Aber Boris Preckwitz hat kein Interesse an Differenzierung (und ich habe jetzt keine Lust, dieses Fass aufzumachen), das Lachen des Publikums entwertet ihm ganz allgemein das ganze Format, er beklagt „eine Publikumsheiterkeit, in der das eingespielte Gelächter der Sitcoms real geworden ist“, wettert gegen „humoristischen Gefälligkeitsprosa“ und die „Mischung aus Stand-up, Punchlines und histrionischem Unterton“, diesen ganzen billigen Zirkus von Leuten und für Leute, die ohne Nachzuschauen wahrscheinlich nicht einmal sagen könnten, was „histrionisch“ bedeutet.

Vielleicht hat er ja sogar Recht damit und ich – selbst „Storyteller und Comedian“ – belle hier nur wie ein getroffener Hund. Also gehen wir davon aus, dass diese Analyse stimmt, und 90 Prozent der Texte bei Poetry Slams nur Witzsammlungen sind. Gehen wir weiter davon aus, dass auch richtig ist, was er über die letzten Bastionen der Lyrik beim Poetry Slam schreibt: „Die seriellen Rap-Rhymes, wie auch die Refrains und Repetitionsverfahren des spoken Word nähern sich dem Prinzip der Werbung an, demzufolge eine Botschaft nur oft genug wiederholt werden muss, um anzukommen.“ Ich erkenne in den Repetitionsverfahren ja eher eine Annäherung an musikalische Prinzipien, aber der Werbevorwurf passt halt prima zur Preckwitz’schen Hauptthese, auf die ich weiter unten zu sprechen komme.

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(Der repetitive Charakter von Sonnenauf- und untergängen erinnert an die Prinzipien der Werbung)

Es ärgert mich, dass die Vielfalt der Texte einfach ignoriert wird. Und es gibt diese Vielfalt – stilistisch, inhaltlich, qualitativ. Nicht bei jedem einzelnen Poetry Slam, das gebe ich gerne zu.

Poetry Slam und Lesebühnen haben gesprochene Literatur hunderttausenden Menschen nahegebracht. Da kann man reflexhaft „Mainstream! Massengeschmack!“ schreien und sich die Haare raufen, man kann sich aber auch darüber freuen. Es ist ja nicht so, dass diese Zuschauer früher in ordentlichen Dichterlesungen im Literaturhaus saßen und nun vom Fast Food der Slams verdorben wurden. Nein, diese Menschen hätten sonst vielleicht in der Kneipe oder vor dem Fernseher gesessen, so aber hören sie Leuten zu, die einen Monat vorher vielleicht selbst noch Publikum waren und ihnen jetzt ihre lustigen, wütenden, banalen, traurigen, gereimten, gebrüllten, ehrlichen, gekünstelten, guten, mittelmäßigen oder grottenschlechten Texte vortragen. Und wenn die meisten Zuschauer zum Slam gehen, um sich unterhalten zu lassen – na und? Jochen Schmidt, Mitglied der Lesebühne „Chaussee der Enthusiasten“, (ups, ich glaube zumindest, dass es Jochen war) hat mal gesagt: „Wir wollen die Leute unterhalten, ohne sie dümmer zu machen“ – aber auch ohne sie zu erziehen. Ich halte das weder für ehrenrührig noch für literaturunwürdig.

So. Jetzt habe ich das böse Wort selbst verwendet: Poetry Slams sind unterhaltsam. Und nicht die längst fällige Weltrevolution. Sie sind nicht Ausdruck „literarischer und sozialer Dissidenz“, sondern „Sprachrohr eines affirmativen gesellschaftlichen Milieus“, „nicht rebellisch und innovativ, sondern durchweg gesellschaftskonform“.

Das ist der Kernvorwurf von Boris Preckwitz’ Artikel. Und seit ich ihn gelesen habe, will er mir nicht aus dem Kopf gehen (dieser Blogpost funktioniert hoffentlich als Exorzismus). Poetry Slammer sind keine Dissidenten, zumindest nicht in dem Sinne, in dem wir das Wort normalerweise gebrauchen. Sie können die Gesellschaft noch so kritisieren, ihre Wut auf die Zustände herausbrüllen, die Abschaffung des Kapitalismus fordern, sich selbst oder andere anklagen – sie bleiben Teil der Gesellschaft, nichts von dem was sie auf der Bühne tun, wird das System oder auch nur den Kulturbetrieb in seinen Grundfesten erschüttern. So sieht’s aus.

Das Problem ist nur, dass das ein Nichtproblem ist. Dass das auf alle Kultur in unserer Gesellschaft zutrifft. Dass die Voraussetzungen für die Art von Dissidenz, wie es sie in den sozialistischen Ländern gab und in den autoritären Ländern der Welt heute noch gibt, in Deutschland nicht mehr existieren.

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(Warnung: Dieses Foto ist nicht rebellisch, nicht innovativ, nicht dissident. Längeres Betrachten kann zu Gesellschaftskonformität führen.)

Ohne darauf einzugehen, wie frei unsere Gesellschaft wirklich ist: In kultureller Hinsicht zumindest halte ich sie für sehr frei. Kritik an der Regierung führt nicht ins Gefängnis, kein Autor muss Botschaften zwischen den Zeilen verstecken. Wenn man nicht gerade einen Gottes- oder Führerstaat herbeischreiben will und von einigen anderen Ausnahmen abgesehen, kann sich der Autor austoben und abarbeiten. Sogar Israel darf man kritisieren, obwohl das immer wieder bestritten wird. Das ist eigentlich ziemlich prima.

Aber damit geht auch etwas verloren. Wo sich Kritik nicht hinter Versen verstecken muss, deren eigentliche Bedeutung mühselig entziffert werden muss, wo Ironie nicht mehr überlebenswichtige subversive Taktik ist, um Dinge zu sagen, die man eigentlich nicht sagen darf, wo ein Bild nicht mehr durch subtile Verzerrung der offiziellen Wirklichkeit eine verbotene Wahrheit enthüllt, weil es keine verbotene Wahrheit gibt, wo radikale Gesellschaftskritik selbst schon wieder gesellschaftskonform ist (und vom Feuilleton bürgerlicher Zeitungen geradezu eingefordert wird) da bleibt für Dissidenten eigentlich nur, diese Freiheiten verächtlich zu machen und ihre Abschaffung zu fordern. Nazi-Liedermacher können sich mit einigem Recht als Dissidenten bezeichnen. Soviel zu der Frage, ob Dissidenz an sich etwas Positives sein muss.

Der Kunst aber bleiben abseits der Dissidenz genug Aufgaben, und eine davon ist es, die Meinungsbildung innerhalb der Gesellschaft zu beeinflussen. Das versuchen mit ihren Mitteln viele, wenn nicht die meisten der Protagonisten bei Slams.

Poetry Slam sei auch „nicht rebellisch“ – was heißt denn das? Ist „rebellisch“ (oder „unangepasst“ oder „unbequem“) nicht nur noch ein Orden, der Künstlern von Kulturverwaltern und -erklärern angeheftet wird und ihren Marktwert steigert? Oder meint Boris Preckwitz die Suche nach den letzten verbliebenen Tabus, die man noch brechen kann? Den Versuch, möglichst viele Leute vor den Kopf zu stoßen? Einen verzweifelten Angriff auf die Kunst an sich oder das Medium, dessen man sich selbst bedient? Das Verwerfen herkömmlicher Lebenschancen, Karrieren und Sicherheiten zugunsten der Kunst? All das kann er beim Poetry Slam finden.

Ist es eigentlich wirklich so schlimm, dass Slams genau wie Musik oder gedruckte Bücher Teil der Gesellschaft sind? Und ist „harmlos juvenile[r] Popsound, in den Versatzstücke des Medienkonsums wie Slogans, Web-Jargon oder Anglizismen gemixt sind“ das Ende der Kultur oder gehören diese Versatzstücke vielleicht zwingend in Texte, in denen junge Menschen versuchen, ihr Leben, ihre Hoffnungen, Ängste, Gefühle in einer Welt darzustellen, in der Medienkonsum nun einmal mindestens dieselbe Bedeutung hat, wie zu Zeiten der Romantiker das Naturerlebnis?

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(Symbolbild Romantik)

Ich schreibe lustige Geschichten. Ich habe schon über unabgewaschenes Geschirr, Herpes an der Lippe, nervige Mitreisende im ICE und andere banale Themen geschrieben. Manchmal auch über Themen, die eigentlich feuilletonaffin wären, die Geschichten werden leider trotzdem lustig. Ich kann scheinbar nichts anderes, aber das ist mein Problem, nicht das des Slams an sich.

Ich bin sehr froh, bei Poetry Slams Menschen zu begegnen, denen es ähnlich geht – und Menschen, die Sachen schreiben, zu denen ich nicht fähig bin. Menschen, denen Lesebühnen oder Poetry Slams den Mut und die Gelegenheit gegeben haben, sich auszuprobieren. Und die sich vielleicht weiterentwickeln werden. Zu Comedians oder Lyrikern oder Revolutionären. Die ihr ganzes Leben dem Schreiben widmen oder es als Hobby betreiben..

Als ich 2004 anfing, an Slams teilzunehmen, konnte ich mit dem, was beim Slam „Poetry“ war, wenig anfangen. Ich fragte mich, welche Geschichte mir diese Poeten mit ihren Gedichten erzählen wollen. Es dauerte lange, bis ich begriff (bzw. wiederentdeckte), dass ein Text statt Handlung einfach ein Gefühl transportieren kann, dass Sprache Melodie sein kann, dass Worte manchmal vor allem Bilder malen wollen.

Ich kann das nicht. Ich will es auch gar nicht. (Ideal wäre natürlich, wenn ich Lyrik oder ernste Prosa schreiben könnte und mich dann dagegen entschiede. So haftet meinem „Ich will nicht“ der Makel der Unfreiwilligkeit an, aber egal, ich schweife ab.)

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(Rebellisch dem Wind trotzendes Schilf)

Was ich sagen will: Poetry Slam ist eine Veranstaltung, die Augen öffnen kann. Beziehungsweise Ohren. Und manchmal auch Münder und Herzen und Beine … nein, Beine nicht, das ist Quatsch. Ich höre jetzt besser auf, der Witzereißer in mir nörgelt, weil ich ihn 13.000 Zeichen lang an der kurzen Leine gehalten habe. Ich zieh mir nachher noch ‘ne Fips-Asmussen-Kassette rein; Inspiration für einen weiteren gesellschaftskonformen Text mit histrionischem Unterton. .

Und weil dieser Beitrag alles schon viel zu lang ist und ein Schnitzel auf mich wartet, das ich noch in diesem Zyklus des Mayakalenders braten möchte, bleibt Boris Preckwitz’ These, Poetry Slam Workshops würden Jugendliche für den kapitalistischen Menschenzoo abrichten, an dieser Stellle unwidersprochen und ich gehe auch nicht mehr auf seine Analyse der humoristischen Kurzprosa bei Poetry Slams ein, die ich sehr gelungen finde, der ich aber noch etwa hinzuzufügen hätte. Ich verspreche hoch und heilig, dies bald nachzuholen. Dieses Versprechen hat den einzigen Zweck, sicherzustellen, dass ich es auf keinen Fall tun werde; es reicht ja nun.

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(Symbolbild “Schnitzel braten”)

(Volker  Strübing)

2 thoughts on “Hammerwerfer und Bogenschützen

  1. Auch wenn du das mit deinem Blogbeitrag nicht zwingend erreichen wolltest gebe ich dir 100% Recht.

    Und mein Glückwunsch zu den gelungenen Symbolfotos.

  2. Sehr guter und sehr richtiger Blogbeitrag!
    Ich habe zwei linksradikale Freunde und was mich bei deren Aktionen und Aussagen immer stört und gleichzeitig beruhigt, ist dass ihre ganze Protestkultur samt Revolutionsaufrufen selbst zu unserer Gesellschaft mit Meinungsfreiheit und allem drum und dran gehört. Einer von ihnen ist sogar auf Facebook…
    Daher kann ich gut nachvollziehen, worauf du hinaus willst, Volker, und bin froh dass du das mal ausgedrückt hast, was ich seit langem denke, auch wenn du dich hier auf den Poetry Slam konzentriert hast. Der Punkt ist, ich mag meine Kultur gesellschaftskonform – unsere Gesellschaft erlaubt schließlich (fast) alles und alleine das ist doch eigentlich schon ein Grund nicht allzu sehr dagegen zu sein.

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