Sorry, habe diesen Beitrag vor ein paar Jahren online gestellt, er war aber nicht mehr zugänglich. Weil ich ihn gerade in einer Facebook-Verlinkung einer Sascha-Lobo-Kolumne verlinken wollte, poste ich ihn nochmal als normalen Beitrag.
(Ausschnitt aus einer unveröffentlichten SF-Erzählung. Hier gepostet zur Illustration des Artikels: Daten brauchen keinen Schutz. Die können auf sich selbst aufpassen.)
Die Daten sind da. Es gibt kein Zurück. Wir müssen uns entscheiden, wem sie gehören sollen – einer kleinen Elite oder allen.
(F.L., 2016)
Der private Raum wurde immer kleiner, was einerseits an der wachsenden staatliche Überwachung, andererseits an der freiwilligen Preisgabe von intimen Informationen im Web 2.0 lag. Mit der massenhaften Verbreitung von Video- und Kamerabrillen, für die sich bald die Bezeichnung „Visor“ durchsetzte, war das Ende der Privatsphäre so gut wie besiegelt. Äußerlich kaum von einer normalen Sonnenbrille zu unterscheiden, konnten sie mehrere Stunden Video aus der Ego-Perspektive aufzeichnen. Ursprünglich für die unkomplizierte Dokumentation des Urlaubs gedacht, wurde die Brille für viele Nutzer zu einem unverzichtbaren Alltagsgegenstand. Bald standen Geräte zur Verfügung, die den Videostream live ins Netz übertrugen.
Das Problem lag auf der Hand: Wer sein Leben veröffentlichte, veröffentlichte auch das seines sozialen Umfelds.
Viele Jugendliche stellten ihr gesamtes Leben ins Internet. Höchstens auf der Toilette, beim Sex oder wenn sie Straftaten begingen, schalteten sie die Übertragung ab – manche auch dann nicht.
DasPortal „Little Big Brothers“ wurde zum Zentrum der Visor-Community.
Little Big Brothers erlaubte es nicht nur, die Beiträge von Mitgliedern zu bewerten, sondern die User selbst, ihre soziale Kompetenz, ihre Intelligenz, ihr Aussehen, ihre Qualitäten im Bett etc. Tauchte ein anderes Community-Mitglied im Blickwinkel des eigenen Visors auf, wurde ein Link in das Realbild eingespiegelt, den man durch Doppelblinzeln aktivieren konnte, um auf das Profil und alle öffentlichen Daten des anderen zuzugreifen. Das Gegenüber wiederum wurde über diese Aktion informiert.
Mit einer Gesichtserkennungssoftware und der von Usern angelegten „Population Data Base“, konnten auch Nichtmitglieder erkannt und bewertet werden.
Es kam zu Gewalttätigkeiten gegen Personen, die Aufzeichnungsgeräte trugen. Dutzende, vielleicht Hunderte Menschen begingen Selbstmord, nachdem sie von der „Little Big Brotherhood“ wegen Nichtigkeiten mit Häme oder schlechten Bewertungen überschüttet worden waren. Wer nicht paranoid war, galt als geisteskrank.
Doch die Situation normalisierte sich – auch wenn das Wort „normal“ in diesem Zusammenhang vielen Menschen so passend erschien wie die Kombination „gemütlich“ und Zahnschmerzen.
Grund waren Rückkopplungseffekte, die teilweise in die Software integriert waren, teilweise aus der sozialen Interaktion resultierten. Wer mobbte, beleidigte, schlecht bewertete, schadete über kurz oder lang seinem eigenen Ansehen. Kooperation und soziale Kompetenz hingegen zahlten sich aus.
Enthusiasten feierten die Little Big Brotherhood als sich selbst regulierende anarchistische Gemeinschaft und Vorbild für die ganze Menschheit. Kritiker sprachen von der „Selbsteinweisung einer verlorenen Generation in die digitale Besserungsanstalt“ – und gingen anschließend selbst online, um ihre neuesten Bewertungen abzurufen oder mit einer Kamerafliege dem Partner nachzuspionieren.
Lange versuchte man, die Gesetze und Normen der Prä-Netz-Ära zu erhalten. Im Alltag war der freie Austausch von Informationen längst Realität – ob es sich dabei um Musik, Software oder Privates handelte. Wäre man ernsthaft dagegen vorgegangen, hätte man die halbe Bevölkerung vor Gericht stellen müssen. Die meisten Menschen konnten nicht einmal mehr einschätzen, wann sie Persönlichkeits-, Marken- oder Vervielfältigungsrechte verletzten.