Gefahren lauern überall. Doch nicht umsonst heißt es: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Nie lebten Menschen sicherer und länger als wir Mitteleuropäer am Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Sicherheit aber wird mit Unfreiheit erkauft. Wo es möglich ist, wird uns der Zugang zu den Gefahren verwehrt, wo nicht, sind wir erzogen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Mit jeder erkannten Gefahr schrumpft unser Handlungsspielraum, bis wir in nicht allzuferner Zukunft unsere Tage dick eingemummelt in atombombensicheren Wattebäuschen fristen werden.
Wer von uns hat noch selbst an vereisten Treppengeländern geleckt? Keiner. Denn wir wissen, dass es gefährlich ist. So wie wir wissen, dass man bei Gasgeruch nicht den Lichtschalter betätigt (und dass diejenigen, die sich für clever halten und stattdessen eine Kerze anzünden, sich selbst ebenso effektvoll wie effektiv aus dem menschlichen Genpool entfernen). Wir wissen, dass wir bei Gewitter nicht nackt auf einen Baum klettern und dem Wettergott mit einem langen Metallrohr drohen sollen – oft genug haben Mutti und Vati uns auf das schreckliche Schicksal unseres Großonkels Erwin hingewiesen, dem angeblich genau dies vor Stalingrad zum Verhängnis wurde. Wir werden uns hüten, in einer Moschee in Peschawar laut schmatzend Schweineschnitzel zu essen, insbesondere wenn wir zufällig eine betrunkene unverschleierte Frau im Bikini sind. Wir vermeiden es aus gutem Grund, als Fußgänger eine Autobahn oder sogar einen Fahrradweg zu betreten, stecken uns keine angezündeten Silvesterknaller in nicht dafür vorgesehene Körperöffnungen und lassen uns zu unserem eigenen Besten von Geheimdiensten abhören, damit wir nicht plötzlich zu Terroristen werden, denn Selbstmordattentäter leben gefährlich, fast so gefährlich wie Passivraucher, wie neuere Studien ergaben.
Zigaretten, Plastetüten und Hochspannungsleitungen sind mit Warnhinweisen ausgestattet, wir tragen Fahrradhelme und Gurte; Flugzeugtüren sind sinnreich so konstruiert, dass wir sie nicht versehentlich öffnen können, wenn wir uns beim Toilettengang in der Tür irren. So gut wie niemand bekommt mehr Kinder, da wir uns ungeschützten Sex gar nicht mehr vorstellen können.
Doch machem wird der Mutterinstinkt von Vater Staat zu viel, machem passt es nicht, dass man uns zu unserem Schutz in Zwangswattejacken steckt; weich und warm und fest geschnürt … Freiheit stirbt mit Sicherheit, rufen diese tapferen Menschen und steigen ohne Helm aufs Fahrrad, zünden sich mit Todesverachtung im Blick eine Zigarette an oder kündigen bei Lichtblick, um sich zukünftig wieder Atomstrom liefern zu lassen.
Ich bin einer dieser Adrenalinjunkies, immer auf der Suche nach Fluchtwegen aus der Gummizelle des Beschützerstaates, bereit, jedes Risiko einzugehen und, wenn es nötig ist, den Preis dafür zu bezahlen. Und so stieg ich in einer lauschigen Sommernacht des Jahres 2012 auf der Suche nach einem Bier todesmutig durch ein Parterrefenster in eine medizinische Fußpflegepraxis in Friedenau ein und riss mir dabei den Meniskus. Wie genau es dazu kam, ist eine lange Geschichte und interessiert sicher niemanden. Wer näheres wissen will, findet bei vimeo mang diversen Basejump- und Parcoursvideos eine Slowmotion-Aufname der tollkühnen Aktion, denn selbstverständlich habe ich mit einer Helmkamera mitgefilmt.
Leider haben die Büttel des bemutternde Obrigkeitsstaates das Video gefunden und die erwartbaren Konsequenzen gezogen: Seit dem 1.1.2013 ist die Lagerung von Bier in Fußpflegepraxen strengstens untersagt. Ein weiteres Schlupfloch ist geschlossen, noch ein Stück Freiheit gestorben.
Im Laufe der Nacht ließ ich mir an der Verbindungsstelle zwischen linkem Ober- und Unterschenkel einen Kindskopf wachsen, sogar ein Gesicht glaubte ich in den interessanten Mustern des begleitenden Blutergusses zu erkennen, es war die hässliche Fratze des Glöckners von Notre Dame, zehn Tage nach seinem Tod.
Am Montagmorgen rief ich ein Taxi, das mich zu einem Arzt fahren sollte.
„Wie jetze? In die Rabommelstraße zum Ärztehaus?“, polterte der Taxifahrer, nachdem er mich eine Viertelstunde lang seelenruhig dabei beobachtet hatte, wie ich mich mit schmerzverzerrtem Gesicht die 10 Meter von meiner Haustür bis zum Taxi schleppte. „Dis is doch höchstens n Kilometer! Ich hab ne Stunde an der Taxihalte jestanden und jetzt hab ich meinen Platz in der Reihe uffjejeben für diesen Quatsch!? Dit sind doch höchstens 10 Minuten zu Fuß!“
„Nicht für mich“, gab ich zu bedenken.
„Mann, ey, dis kotzt mich an, denkt denn heutzutage jeder nur noch an sich? Eine Stunde ha ick an der Halte jestanden, ich wäre als nächster dran jewesen, ne schöne Fahrt nach Schönefeld oder wenigstens zum Hauptbahnhof, aber ich durfte den Auftrag von der Zentrale nicht ablehnen, Mannmannmann. Ich verdien eh schon nüscht und habs im Kreuz und Al Quaida hört unsere Emails ab, seit meine Frau in einer Moschee nackt mit Bockwürsten um sich geschmissen und , „Gott ist mir Wurst“ skandiert hat und die Kinder müssen teuren Spezialbrei essen, weil sie im letzten Winter an vereisten Treppengeländern geleckt haben, und der feine Herr lässt mich hier antanzen, um sich zum Onkel Doktor chauffieren zu lassen, wahrscheinlich zum Schönheitschirurg oder weil er ein neues Viagrarezept braucht, dafür bin ich 89 nicht auf die Straße gegangen!“
Wortlos schob ich das Hosenbein meiner Shorts hoch und ließ ihn einen Blick auf meinen Kniemutanten werfen.
„Oh“, sagte er und beruhigte sich etwas. „Bier geholt?“, fragte er. „In ner medizinischen Fußpflegepraxis?“ Ich nickte. Er nickte. „Na gut“, sagte er und fügte aus Gründen der Selbstachtung an: „Aber trotzdem.“
Na, lass mich raten, der Taxifahrer heiBt Norbert?
Daraus wird doch noch ein richtiger Spinne und KloB, oder?