Ich hab das Gefühl, dass die Dämme brechen. Und statt mit Sandsäcken rennen alle mit Spitzhacken los. Verdammt, nicht einmal ein Krieg mit Russland scheint mehr komplett ausgeschlossen, es ist, als seien alle komplett durchgedreht oder hätten kollektiv die Medikamente abgesetzt. Alle. Von oben bis unten, von rechts bis links. Ob ich die Nachrichten lese oder die Kommentare darunter, es kommt mir vor, als würden wir sehenden Auges in die Katastrophe rennen. Und dabei jubeln. Eine kaum verhohlene Lust am Untergang bricht sich Bahn, eine Vorfreude auf den Moment, wo man inmitten von Trümmern stehend sagen kann: „Seht ihr, hab ich gleich gesagt“.
Die Behauptung, die Demokratie sei tot, wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung; Zwischentöne, Zweifel oder der Versuch, beide Parteien eines Konfliktes zu verstehen, werden als Sympathie mit Faschisten/Terroristen/Völkermördern/dem System diffamiert. Lieber schlägt man sich auf eine Seite und setzt Scheuklappen auf (das Internet, von dem wir einst glaubten, es würde zu Offenheit führen, hilft dabei), bestätigt sich gegeneinander in einer Spirale der Hysterie und paktiert zur Not wirklich mit Faschisten, Islamisten und Autokraten, wenn sie nur denselben Feind haben, das heißt in der Regel: „die da oben/das korrupte Politikerpack/die Journaille/die linksgrünen Gutmenschen/die Einheitspartei etc. pp. Sicher (oder: hoffentlich) ist das eine verzerrte Wahrnehmung, aber ob in der Kneipe oder ganz besonders im Netz, das Geschrei scheint lauter und aggressiver zu werden.
Historische Vergleiche sind immer schwierig und meistens unsinnig, man kann alles mit allem vergleichen und findet immer irgendwelche Parallelen, die die eigene These stützen. Ich möchte trotzdem einen Vergleich bringen, einen der nicht die Fakten vergleicht, sondern so ziemlich das Subjektivste, das es gibt: meinen Eindruck, mein Bauchgefühl.
Und das erinnert mich manchmal sehr stark an die letzten Tage der DDR. Ich habe keine Statistiken zur Hand, ich kann mich nur auf das beziehen, was ich selbst erlebt habe (allerdings scheinen mir die darauffolgenden Ereignisse Recht zu geben): Niemand, absolut niemand, nicht einmal ihre höchsten Repräsentanten (von dem einen oder anderen Erich abgesehen) schien 1989 noch wirklich hinter diesem Land zu stehen. Die friedliche Revolution – in Wirklichkeit war sie eine achselzuckende Selbstabschaffung. Kein ideologisch gefestigtes (oder aus sonstigen Gründen machtbesessenes) Regime ließe sich von so ein paar Demonstrationen in die Knie zwingen.
Die DDR war von innen heraus verfault, ein Potemkinsches Dorf, ein Zombie. Jeder funktionierte an seinem Arbeitsplatz, beim Mai-Aufmarsch, in der Betriebsversammlung. Doch zuhause und in der Kneipe sagte man seine wahre Meinung: „Scheiß Osten“. Vom Bauarbeiter über den ABV bis zum Parteisekretär. Selbst die rotesten Socken, die Überzeugten, die Hundertfuffzigprozentigen holten spätestens am Montag nach dem 9.11. ihr Begrüßungsgeld ab, erzählten, dass sie es ja schon immer gewusst hätten („die Idee war gut, aber die Menschen …“) und wie sie ihren kleinen Beitrag zur Wende geleistet hatten, und zeigten großes Geschick dabei, auf die Füße zu fallen oder oben zu schwimmen.
Und etwas Ähnliches glaube ich auch jetzt wieder zu beobachten. Niemand scheint noch wirklich hinter „dem System“ zu stehen. Nicht die politischen und religiösen Extremisten, nicht der Kommentarmob im Internet, der nur noch Hohn und Zynismus für die Institutionen und Repräsentanten der parlamentarischen Demokratie übrig hat und oft genug nicht einmal diese Repräsentanten selbst. Demokratiemüdigkeit und der Glaube, das „die da oben“ uns sowieso nur als Steuerzahler und Stimmvieh missbrauchen und davon abgesehen verabscheuen und verhöhnen ziehen sich durch die ganze Gesellschaft.
Und wer würde sich darüber wundern? Gazprom-Schröder, Mutti Merkel mit ihrer „alternativlosen“ Politik und zahllose andere haben der Marke „Demokratie“ kaum zu unterschätzenden Schaden zugefügt. Wer kann den selbstherrlichen Phrasen der Politiker noch glauben? Geht es ihnen wirklich um Demokratie und Freiheit und Rechte oder sind das nur die Nebelkerzen, mit denen die pure Lust an der Macht getarnt wird? Und ist es überhaupt noch eine Demokratie oder sind Wahlen und Parlamente nur ein Deckmäntelchen zur Legitimation der totalen Diktatur der Großkonzerne? Ist ein Sitz im Bundestag nicht nur noch eine Art Praktikum für den späteren Job als Industrievertreter? Wie kann man dem Menschenrechts- und Friedensgerede noch glauben, wenn Doppelmoral und Doppelstandards so deutlich zu Tage treten und wieder einmal ein Waffendeal mit Saudi-Arabien abgeschlossen wird? Was sollen wir mit einem Bundespräsidenten, der mehr militärisches Engagement fordert, der von Freiheit redet und dabei klingt wie ein Hohepriester des Neoliberalismus?
Und die Medien? Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat so beeindruckend an der Beschädigung seiner Glaubwürdigkeit gearbeitet, dass ich beinahe verstehen kann, wenn manche Leute es als hundertprozentig korruptes Sprachrohr und reine Hofberichterstattung betrachten. (Ich schreibe „Beinahe“, denn der Vorwurf ist trotz allem absurd – aber das ist ein anderes Thema.) Den meisten Leuten reicht es indes schon, wenn nicht jede obskure Verschwörungstheorie, nicht jeder unbestätigte Massakerbericht in der Tagesschau und der „Systempresse“ gewürdigt wird, um von Zensur zu sprechen.
(Keine Ahnung, was sich die Systempresse (in diesem Fall die FAS vom 27.7.2014, aus der alle Bilder und Schlagzeilen auf dieser Seite stammen) dabei dachte, als sie diesen Manager der Fluggesellschaft Condor vor Piktogrammen von offenbar abstürzenden Flugzeugen ablichtete … In dem Artikel aus dem das Wort Knochenbrecher stammt, ging es übrigens nicht um Condor, sondern um einen Bartgeier, aber das passt ja.)
Ein Staat, den ein großer Teil seiner Bürger für eine einzige Lüge hält. Ein Schnellkochtopf aus dem man ab und zu mit einer Fußball-WM ein bisschen Dampf ablässt. Eine Elite, die komplett den Draht zu „denen da unten“ verloren hat usw. usf.
Mich erinnert es an 1989, nur dass es keine Fußball-WM gab.
Ja, ich weiß, das ist alles Quatsch. Aber ich kann nichts dagegen tun, dass mich dieses Gefühl beschleicht, wenn ich im Internet unterwegs bin – und immer häufiger auch in der realen Welt. (Wobei das Netz natürlich auch Teil der realen Welt ist, aber Cafés, S-Bahnen, Supermärkte fühlen sich doch noch einen kleinen Pups realer an.)
Der größte Unterschied zu damals: Die Wende habe ich herbeigesehnt (wenn auch nicht in Form eines bedingungslosen, erniedrigenden Anschlusses an die BRD), es war eine tolle, spannende Zeit und das Ergebnis (trotz der eben erwähnten Unzulänglichkeiten) eine prima Sache.
Heute macht es mir Angst. Denn unter allen bisher auf dieser Welt erprobten Systemen ist das derzeit hier installierte das einzige halbwegs brauchbare. Nicht perfekt, weiß Gott nicht, aber mit der eingebauten Möglichkeit, sich selbst zu verbessern. Dazu allerdings wäre Mitwirkung nötig und dazu eben auch ein bisschen Glauben an die Demokratie. Und genau dieser scheint verloren zu gehen. Wie auch der Respekt vor anderen Meinungen und Lebensentwürfen, ein in Fragestellen all der Werte und Freiheiten einer offenen, pluralistischen Gesellschaft. Und jeder hat den Eindruck kämpfen zu müssen. Um den Job, um den Sitzplatz in der Bahn, um die Wahrheit, um die enge Sprosse auf der sozialen Leiter, um Likes und Geld und Recht und darum, wer der bessere, schnellere, ausdauerndere, stärkere, erfolgreiche und letztlich: wertvollere Mensch ist.
Diese Wut aufeinander, das Gefühl, dass die anderen Gegener oder bestenfalls sich bewegende Hindernisse sind, fehlte vor 25 Jahren. (Aber vielleicht projiziere ich hier einfach meine eigene Wut.)
Noch etwas war ganz anders: 1989 gab es eine Alternative zum real existierenden Sozialismus. Was wären denn heute die Alternativen? Was bekommen wir, wenn wir das hier kaputt hauen oder zusehen, wie es kaputtgehauen oder missbraucht wird? Ganz sicher nichts Besseres, Menschlicheres, Sozialeres und Freiheres. Sicher kein neuer Hitler, aber wer sagt denn, dass nicht Gestalten wie Orban oder Putin tatsächlich die Demokratie aushebeln und uns zeigen, wie es wäre, wenn es tatsächlich Zensur gäbe und Journalismus nur noch Hofberichterstattung sein dürfte?
Inzwischen bedauere ich es sehr, dass die Piraten gescheitert sind. Sie hatten viele Positionen, die ich doof fand, teilweise sogar gleich mehrere einander ausschließende Postionen zu einer einzigen Frage, die ich alle doof fand, aber ihren Traum, die Demokratie zu modernisieren, zu re-demokratisieren und zu öffnen, vermisse ich. Wir hätten sie gebraucht, um den etablierten Parteien ein bisschen Feuer unter dem Hintern zu machen. Nun ist zu befürchten, dass das Rechtspopulisten oder Schlimmere übernehmen.
Vielleicht sehe ich alles zu schwarz. Es gibt zum Glück auch Stimmen, die differenzieren, sich mäßigen und versuchen, nicht in die Schwarz-Weiß-Falle zu tappen. Sogar bei Facebook. Und die meisten sagen nichts dazu und ich hoffe, das bedeutet nicht, dass sie es einfach aufgegeben haben. Ich glaube, die meisten Politiker sind ehrlicher, als der Volksmund behauptet. Ich bin sicher, die meisten Journalisten sind nicht von Großkonzernen und Bundesregierung gekauft. Bestimmt wird der Krieg in der Ukraine nicht komplett explodieren und hoffentlich werden sich die Leute, die gegen den Krieg in Gaza demonstrieren nicht mehr mit Nazis und Islamisten gemein machen. Vielleicht geht gar nicht alles zu Bruch, vielleicht ist es ein nötiger Umbruch und vielleicht führt er zu einer dringend nätigen Modernisierung und – in positiven Sinne – Popularisierung der Demokratie. Aber dafür wäre ein bisschen weniger Geschrei, Fatalismus und Zynismus hilfreich.
PS: Neulich schrieb ich über das Buch Gewalt von Steven Pinker. Ich hoffe, seine These über den generellen Rückgang der Gewalt auf der Welt wird sich bestätigen. Als einen der wichtigsten positiven Faktoren in der heutigen Zeit macht er übrigens das Aufkommen stabiler, parlamentarischer Demokratien aus. Nicht nur was den Rückgang von Kriegen und Bürgerkriegen angeht, sondern auch die Gewalt in allen Bereichen: gegen Kinder, Frauen, Minderheiten, politische Gegner etc.
Vielleicht kann ich Dich mit einer ewigen Wahrheit beruhigen: “Idioten gibt’s immer!”
Hat’s immer gegeben, wird’s immer geben. Und im Internet gibt es bestimmte Idioten-Sammelpunkte (Pool of Idiots), z.B. das Tagesschau-Forum. Die stechen dann eben hervor, nicht durch besondere Einsichten, sondern durch möglichst extreme Formulierungen. (Ja, wer die gröbsten Phrasen drischt, der gewinnt!) Vielleicht benutzen das einige als Ventil, zumal ja alles schön anonym ist. Normale Leute würden gar nicht ihre Zeit damit vergeuden, sich in solchen Foren zu tummeln. Es sind immer die Extremen, die sich dort zu Wort melden. Ich würd die einfach ignorieren. Schlimm genug, dass die wählen dürfen …
Dieses Jahr jährt sich der Beginn der 1. Weltkriegs zum 100. Mal, und mir ist aufgefallen, dass ich mir heutzutage so eine allgemeine Kriegsbegeisterung (“Franzosen, Belgier, Serben, Ihr alle müsst jetzt sterben”), wie sie damals herrschte, gar nicht vorstellen kann.
Ich habe das Pinker-Buch nicht gelesen, aber sagt er nicht, dass es zwar absolut immer mehr Gewalt gibt, aber relativ die Gewalt abnimmt (weil die Weltbevölkerung überproportional zunimmt)? Naja, aber die Erdoberfläche ist natürlich endlich, so dass die Gewalt immer näher kommt, und je näher sich gewaltausübende Individuen kommen desto stärker ist auch die Wechselwirkung zwischen ihnen (Gewalt, die neue Gewalt erzeugt, etc.). Wenn diese Wechselwirkung nun einen verstärkenden Effekt hätte, dann wäre die Prognose doch nicht so gut, wie Pinker meint. Das ist ein beliebter Fehler: Entwicklungen linear in die Zukunft fortzusetzen…
Ja, im Kern geht es darum, dass die Gewalt abnimmt, obwohl sie zunimmt ;) Find ich legitim, denn natürlich ist das Leben in einem Dorf, in dem jedes Jahr bei 300 Einwohnern ein Mord geschieht gefährlicher als in einer Stadt mit 300.000 Einwohnern und 50 Morden. Aber Dein Gedanke, dass sich ab einem bestimmten Punkt in dieser Entwicklung auf einer begrenzten Erde die Gewaltausüber einander näher kommen, ist natürlich sehr gut und Onkel Pinker hat darüber offenbar nicht nachgedacht. Hoffen wir, dass wir demnächst das Universum besiedeln, das schiebt den Kipp-Punkt hinaus.
Ich muss Pinker aber auch verteidigen: Er ist sich des Problems der Vorhersagen durch Interpolation bewusst und betont immer wieder, dass er nur über die Zeit bis heute Aussagen treffen kann und will. Er formuliert auch kein Naturgesetz, das von der Gewalt wegführt, sondern sagt, dass wir das schon selbst übernehmen müssen. Dass man aber vielleicht nicht nur aus den Fehlern der Vergangenheit lernen sollte, sondern auch aus den guten Dingen …
Wendezeit!
Zur DDR-Geschriebenes teile ich. Nix Revolution. Dann nehme ich mal die Gelegenheit, den Duderich “Aufzeichnungen eines Gutmenschen” anzupissen, der mich zum Schutz von Stammkommentatorinnen aus der Ex-DDR verspamt hat, weil ich auf seinem Blog meinte, dass das mit Revolution aber auch gar nix zu tun hatte. Andererseits vergeht kaum ein Tag, an dem der Duderich nicht darauf abzielt, dass es sich bei den gebrauchten Bundesländern um eine als Demokratie getarnte Diktatur handelt. Welche denn nun die bessere Diktatur sei/war, sagt er nicht.
du wirst es nicht glauben aber es wird Krieg geben. Und wir sind die Dummen
Es wird keinen Krieg geben. Diesmal wären die Kriegstreiber selbst mit dran. Die USA sind nicht mal in der Lage Reisbauern und Schafhirte “militärisch” matt zu setzen. Papiertiger die feige aus ihren Bombenschächten und Drohnenspielzeugen auf irgendwas ballern was ein Gegner sein könnte. Eine Schwäche globalen Ausmaßes . Die Power reicht um Not und Elend zu produzieren, das nennen Sie dann Strategie.
Neben Afghanistan (wo sich alle die Zähne ausgebissen haben) hat Russland einen Krieg geführt. Gegen das vom Westen ausgerüstete Georgien. Gesamtdauer 5 Tage.
Es geht imho um die Ausweitung westlicher Diktaturbestrebungen. Jedes Embargo einer demokratisch nicht legitimierten Einrichtung festigt diese. Die EU ist voll mit solchen illegalen korrupten Strukturen.
Das was Sie interessiert sind Posten und Pensionen Privilegien und Penunze. Dafür opfer Sie lächelnd alle Werte die Sie in ihren Sonntagsreden so ablassen.
Darum wird das ganze in den Verblödungsmedien derart gehypt das nur noch die größten Schwachköpfe und der blinde Gefolgspöbel als Leser übrig bleibt.
Der normalverdummte Medienkonsument lässt sich die Butter vom Brot nehmen und verteidigt dieses absurde Verhalten auch noch. Daraus entsteht kognitive Dissonanz die sich in den Massenmedien austobt. Wer das liest ist (bleibt wird) doof. Wer in der Lage ist facts and feeling zu trennen dieses Zeugs dennoch liest oder gar kommentiert macht sich zum Therapeuten der nicht therapierbaren. Das auch noch kostenlos.
Wie schön, dass sich gleich ein paar finden, die meine erste These bestätigen.