(Dies ist eine leicht aktualisierte und gekürzte Fassung einer Geschichte, die zuerst in “Ein Ziegelstein für Dörte”, Voland und Quist, 2006, erschien)
Neulich habe ich meine Dusche in einen Quantendilatationscoaktor umgebaut. Nur so zum Spaß. Ein Quanten-Dilatations-Coactor ist ein Gerät, mit dessen Hilfe man sich innerhalb der omni-circumplectoren Realitätssphere zwischen den singulären Affekt-Ebenen hin und her bewegen kann. Einfacher ausgedrückt: Er erlaubt es, in Paralleluniversen zu reisen.
Das Ding war ziemlich einfach zu bedienen: Mit dem Heißwasserhahn löste ich den Sprung in eine andere Wirklichkeit aus, mit dem Kaltwasserhahn stellte man die Stärke des Sprungs ein.
Ich stellte mich also in die Duschkabine drehte einmal wild an den Knöpfen, es blitzte und im nächste Moment spuckte ich hustend eine Zigarette aus, verschwapperte dabei heißen Tee über eine Zeitung und meine Handfläche, woraufhin ich die Tasse fallen ließ, mit einem Schmerzensschrei aufsprang, als mir der restliche Tee auf die Oberschenkel spritzte und wie ein Derwisch durch das Zimmer hüpfte.
„Fuck!“, rief ich.
„Das heißt: Scheiß Osten.“, sagte eine graugesichtige Frau mit Dauerwelle, die mir gegenüber am Tisch saß und mir vage bekannt vorkam.
In diesem Moment erkannte ich, in was für einem Raum ich mich befand: Es war das Wohnzimmer einer Vierraum-Plattenbau-Wohnung. Ich hatte Kindheit und Jugend in so einer Wohnung in Marzahn zugebracht. An den Wänden klebte Blümchentapete, blasenschlagend, das Muster verblasst. Der graubraune Fußbodenbelag korrespondierte auf das entzückendste mit einem blassorangen Stoffsofa und einer Sperrholzschrankwand.
„Fuck!“, rief ich.
„Das heißt: Scheiß Osten.“, sagte eine graugesichtige Frau mit Dauerwelle, die mir gegenüber am Tisch saß und mir vage bekannt vorkam.
Die Frau drückte meine Zigarette in den Aschenbecher und wischte mit dem Neuen Deutschland den Tisch auf. „Verträgste keine Karo mehr?“, fragte sie. „Nun steh da nicht rum wie ne Honneckerstatue! Zieh dir eine andere Hose an.“
In diesem Moment fiel mir ein, woher ich die Frau kannte: Es war Silke Steffens, wir waren zusammen zur Schule und mit dreizehn auch einen Monat miteinander gegangen. Meine erste Liebe …
Ich war in einer Parallelwelt gelandet, in der ich mich nie von Silke getrennt hatte und nie aus Marzahn weggezogen war und in der …
„Hör mal“, sagte ich leise, „sagt dir das Datum 9.11.1989 was?“
„Ja klar. Da haben sie die Mauern Richtung Polen und Tschechei hochgezogen.“ Und in der die Wende ausgefallen war.
Mit den Worten „Ich muss mal auf Klo!“ rannte ich aus dem Zimmer und ins Bad. Ich schloss die Tür hinter mir ab und atmete erleichtert auf, als ich neben der Toilette einen Berg Bücher und Zeitschriften entdeckte.
„VEB Proparol erfüllt Plan um 20% über!“, jubelte die erste Zeitung, die ich in die Hand nahm, eine Junge Welt. „Der Volkseigene Betrieb Propaganda und Parolen konnte seine Selbstverpflichtung übertreffen und den Ausstoß von Spruchbändern deutlich erhöhen“, hieß es weiter. Eine Bildunterschrift verkündete: „Mit Witz und guten Argumenten auch die Jugend noch stärker auf die Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands einzuschwören, ist den Mitarbeitern des Jugendkollektivs des VEB Proparol ein besonderes Anliegen.“ Auf dem Schwarzweißfoto waren zwei ältere Männer in FDJ-Hemden und Trainingshosen zu sehen, die stolz ein Transparent in die Kamera hielten, dessen Motto lautete: „Auf die Dauer einfach schlauer – Frieden sichern mit Mauer-Power!“ Ich starrte das Foto wohl gut eine Minute fassungslos an. Einer der beiden Männer war ich.
„Auf die Dauer einfach schlauer – Frieden sichern mit Mauer-Power!“
Es klopfte an der Tür. „Brauchst du noch lange Schatz? Du musst langsam los.“
„Äh … nein. Äh. Wir fangen heute eine Stunde später an.“, improvisierte ich
„Ihr fangt doch immer eine Stunde später an.“
Oh Mann, ich war wirklich im Osten gelandet.
„Aber du hast heute Frei-Willi mit der Hausgemeischaft!“, fuhr Silke fort.
„Was für’n Willi?“
„Frei-Willi! FREIWILLIge Arbeitsschicht nach Feierabend. Was ist denn los mit dir?“
„Aber ich hab doch noch gar nicht Feierabend!“
„Bist du blöd geworden oder was? Willst du die Freiwillige Arbeitschicht Nach Feierabend etwa nach Feierabend machen?“
„Nein, äh, natürlich nicht. Ich komme gleich … äh … Schatz …“
Ich durchblätterte ein paar Zeitungen und entdeckte bald einen Artikel über die Frei-Willi-Bewegung. Angeblich war sie direkt aus dem Volk entstanden und wurde als freudig erbrachter Beitrag der um die historischen Gesetzmäßigkeiten und revolutionären Erfordernisse wissenden, entwickelten sozialistischen Persönlichkeit zur Stärkung des Sozialismus und zur Sicherung des Friedens bezeichnet. Dahinter verbargen sich Arbeitseinsätze in allen Bereichen der Produktion und des Dienstleistungsgewerbes. Wahrscheinlich war die DDR durch Massenfluchten inzwischen so ausgeblutet, dass an allen Ecken und Enden Arbeitskräfte fehlten. Wenn ich das Gespräch mit meiner Frau richtig interpretierte, hatten die in solchen Dingen seit inzwischen fast 65 Jahren geschulten DDR-Bürger diese Zusatzschichten einfach in die reguläre Arbeitszeit verlagert. Und sicher würden sie hauptsächlich aus Pausen bestehen.
Nichtsdestotrotz behauptete der Artikel, die Feierabend-Arbeit erbringe jährlich einen Beitrag in Höhe von 10 Milliarden … Globo? Was war ein Globo? Ich musste ein bisschen suchen, bis ich herausfand, dass es sich dabei um die gemeinsame Währung von Kuba, Nordkorea und der DDR handelte, aus Trotz und Größenwahn am selben Tag eingeführt wie der Euro in Westeuropa. Ich wunderte mich schon gar nicht mehr, als ich kurz darauf etwas über das KomInternet, das Computernetzwerk der Globo-Staaten fand – frei von Kinderpornos, Nazipropaganda und Werbung.
„Aber du hast heute Frei-Willi mit der Hausgemeischaft!“, fuhr Silke fort.
„Was für’n Willi?“
„Frei-Willi! FREIWILLIge Arbeitsschicht nach Feierabend. Was ist denn los mit dir?“
Eine halbe Stunde später stand ich mit etwa zwanzig anderen Männern und Frauen schlotternd vor unserem Neubaublock. In der Nacht hatte es geschneit und noch immer fielen vereinzelte Flocken vom Himmel. Wir alle trugen Trainingsanzüge, die sich nur durch leichte farbliche Variationen in den Seitenstreifen voneinander unterschieden.
„Alle mal herhören!“, rief ein dicker Mann mit Schnurrbart, in dem ich unseren Hausgemeinschaftsleitungsvorsitzenden vermutete. „Die Ausgabe der Arbeitsgeräte verzögert sich. Wahrscheinlich ist der LKW unterwegs abgesoffen. Scheiß Osten!“
„Kennt ihr den schon?“, tuschelte jemand neben mir. „Treffen sich zwei Schneeflocken. Fragt die eine: ‘Wo willst du denn hin?’ Sagt die andere: ‘Ich fliege in die Schweiz und mache Ski-Urlaub. Und du?’ Darauf die erste: ‘Ach, ich fliege in die DDR und mache Panik.’“
Ein paar Leute lachten.
„Ruhe dahinten!“, rief der Schnurrbärtige. „Ihr seid nicht zum Spaß hier!“ Er starrte uns ein paar Sekunden streng an, dann begann sein Mundwinkel zu zucken und endlich brach er in schallendes Gelächter aus, in das alle einfielen.
„Nicht zum Spaß hier, hihi, den muss ich mir merken“, kicherte der Witzbold neben mir.
Der HGL-Vorsitzende wischte sich eine Lachträne aus den Augen und bemühte sich um einen ernsten Tonfall. „Um die Wartezeit sinnvoll zu nutzen, schlage ich vor, dass wir unseren Gemeinschaftsraum aufsuchen, eine aktuell-politische Diskussion führen und stolz die Fahne der Arbeiterklasse hissen!“
Unter allgemeinem Gejohle ging es zurück ins Haus. Wir keuchten die Treppen hoch in den 9.Stock – der Fahrstuhl war defekt – wo sich der Gemeinschaftsraum befand.
Irgendwo zwischen dem 4. und 7. Stock nahm mich unser Blockwart zur Seite. „Vielleicht ist es heute soweit, Volker. Sie haben mich heute morgen angerufen und nach dir ausgefragt. Ich habe alles bestätigt.“
„Was ist soweit? Was hast du bestätigt?“
„Vielleicht holen sie Dich heute …“
Er klopfte mir auf die Schulter und ließ mich stehen.
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