Weblog & Podcast von Volker Strübing

Bayreuthbesuchung mit Personenüberfahrung unter besonderer Berücksichtigung veganer Fleischesser und der Kaffeeumschüttproblematik

Datum: 23.07.13
Kategorien: Sonst so

Was für eine muntere, joviale Stimme. „Liebe Fahrgäste, es ist Kaffeezeit. Wie wäre es jetzt mit einem Heißgetränk und einem Stück Butterkuchen im Bordbistro?“ – so in etwa klingt er, nur dass er stattdessen sagt: „Liebe Fahrgäste, aufgrund einer Personenüberfahrung eines vorausfahrenden Zuges hat unser Zug zur Zeit …“ Ist die Sache an sich nicht schlimm genug? Muss man auch noch die deutsche Sprache meucheln? Personenüberfahrung, was für ein Wort! Warum nicht „Personenüberquerung“? Und müsste es nicht statt „Personenüberfahrung eines vorausfahrenden Zuges“ richtig heißen „Personenüberfahrung durch einen vorausfahrenden Zug“? Oder aber: „Personenüberfahrt eines vorausfahrenden Zuges“, wobei „Überfahrt“ vielleicht zu sehr nach Schiffspassage klingt. Vielleicht sollte man einfach sagen: „aufgrund der unbezahlten und unsachgemäßen Benutzung des vorausfahrenden ICE durch eine Person“, das würde eine besonders schlimme Sprachverhunzung (eben die „Personenüberfahrung“) vermeiden und auch nicht so schlimme Bilder im Kopf provozieren. Ist übrigens mal jemanden aufgefallen, wie erleichtert die Verspätungsdurchsagen klingen, wenn man enen Personenschaden, ein Hochwasser, eine hochkant auf den Gleisen stehende Schneeflocke oder andere höhere Gewalten verantwortlich machen kann?

Ich bin unterwegs nach Bayreuth, ein Dreitagesabstecher. Heute Abend Bardienst im Forum Phoinix, morgen Generalprobengucken im Festspielhaus, übermorgen: Bayreuth im Festspieltaumel und ich mittendrin.
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(Richtung Bayreuth heißt auch immer: Raus aus der Sonne.)

Eine Frau mit Krücke setzt sich zu mir, sie hat mitbekommen, dass ich den Schaffner nach Anschlüssen Richtung Bayreuth gefragt habe. „Ich muss auch nach Bayreuth! Was halten Sie davon, dass wir uns ab Lichtenfels ein Taxi teilen?“ Nichts halte ich davon, da sie mit Taxi teilen vermutlich auch Taxirechnung teilen meint. Sie guckt verzweifelt, sie hat eine Karte für die Tannhäuser-Generalprobe heute Abend, die um fünf losgeht. Sie fürchtet, personenüberfahrungsbedingt nicht rechtzeitig anzukommen. Ich beruhige sie. 16.29 Uhr sollen wir ankommen, bis 16.50 Uhr ist Einlass, vom Bahnhof sinds 5 Minuten auf den Hügel, das ist auch mit Krücke zu schaffen. Vorrausgesetzt die vororausfahrenden Züge unterlassen diese unseligen Personenüberfahrungen.

Ich frage, warum sie eine Krücke hat, erkläre, dass ich vor gar nicht allzulanger Zeit selber eine gehabt hätte und mein Knie immer noch nicht in Ordnung sei und dass mich interessiere, wie sie die Stunden auf den Wagnerwürdigungsstühlen des Festspielhauses durchstehen bzw. -sitzen will. Sie zuckt mit den Schultern: „Schmerztabletten. Schon vorher.“ Ich nicke, das ist auch mein Plan, und er hat sich beim Geburtstagskonzert bereits bewährt (allerdings hatte ich da nur 2 Nettostunden durchzuhalten). Aspirin oder Acesal beugen zudem der berüchtigten Wagner-Thrombose vor …

Am Tisch auf der anderen Gangseite sitzt ein freundlicher Mann, Anfang, Mitte 60 wahrscheinlich, Maler und Musiker, DDR-Bürger und ehemaliger Dissident. Wir haben uns kennengelernt, als ich ihn bat, die Musik ein bisschen leiser zu machen. Was er auch tat, wenn auch verwundert, da er, als er die Kopfhörer absetzte, keine störenden Geräusche vernehmen konnte, was entweder daran lag, dass er Jazzgetrommel nicht als störendes Geräusch identifizieren kann, oder daran, dass er seit Jahrzehnten in Bands spielt (als Maler – lange Geschichte). Er kommt schließlich mit einer Frau an seinem Tisch ins Gespräch, ich kann gar nicht anders als zuzuhören, was soll ich denn machen?! Er erzählt von der Stasi, von FDJ-Sekretären an der Uni, die ihm das Leben schwer gemacht haben, von illegalen Kunstprojekten, Protestaufrufen, Freunden, die sich als Spitzel heraustellten, von Schikanen und der erdrückenden sozialistischen Spießbürgermentalität, die Hoffnung und das darauffolgende Entsetzen angesichts der Prager Frühlings und seines Endes. Aber wie bei praktisch allen Dissidenten und Künstlern aus der DDR schwingt auch ein Haufen Nostalgie mit. Immerhin hatte Kunst damals noch eine Bedeutung, eine Meinung erforderte Mut, man träumte davon, andere Dinge zu verwirklichen, als einfach nur sich selbst. Und dann natürlich der Zusammenhalt! „Auch wenn wir wussten, da waren Spitzel bei!“ Und wie fast alle Dissidenten und Künstler aus der DDR ist er mit dem jetzigen System unzufrieden. „Wir wollten die DDR nicht einfach aufgeben, wir wollten etwas anderes probieren, einen dritten Weg. Ein demokratischer Sozialismus mit freier Marktwirtschaft, das war mein Traum.“

Seither denke ich darüber nach, wie das aussehen sollte. Meinte er wirklich „freie Marktwirtschaft“, den Kampfbegriff der Wirtschaftsliberalen? Sind Sozialismus und freie Marktwirtschaft vereinbar? Natürlich sind sie das, davon bin ich inzwischen überzeugt. Der demokratische Sozialismus mit freier Marktwirtschaft wird endlich das Paradies auf Erden bringen. Die Menschen werden vegane Gerichte mit Fleisch essen, keusche Sexorgien feiern und humane Kriege führen. Tolerante Nazis, gottesfürchtige Atheisten, bescheidene Investmentbanker und Supermodels mit Durchschnittsfigur werden sich an den Händen halten und gemeinsam die „Hymne des Demokratischen Sozialismus mit freier Marktwirtschaft“ singen:

Dunkel war’s, der Mond schien helle
als ein Auto blitzeschnelle
langsam um die Ecke fuhr
Drinnen saßen stehend Menschen
schweigend ins Gespräch vertieft
als ein totgeschossener Hase
auf der Sandbank Schlittschuh lief.

In der Zugkneipe ist die Klimaanlage ausgefallen. Gefühlte 40 Grad oder so. Das erklärt vielleicht einiges. Als ich den Menschen an der Bar bitte, mir einen Deckel zum Kaffeebecher zu geben, sagt er bedauernd, dass sie leider nur Deckel für die großen Kaffeebecher hätten. „Hm, na dannn gießen sie doch meinen Kaffee in einen großen Becher“, mache ich einen, wie ich finde, vernünftigen Vorschlag.

„Nein, tut mir leid, ich kann ihnen keinen kleinen Kaffee in einem großen Becher rausgeben.“

Ich schaue etwas verwundert drein. „Doch, das können Sie“, sage ich schließlich aufmunternd. „Umgedreht wäre es schwierig.“

Er lacht freudlos. „Nein, das geht nicht! Die großen und die kleinen Becher sind unterschiedliche Kostenstellen, das darf ich nicht machen.“ – „Und Bahnchef Grube zählt abends nach, wieviele Becher von jeder Sorte rausgegeben worden und vergleicht das mit der Kaffeekasse?“ – „Haha, Sie haben gut reden, aber für mich geht’s um meinen Job!“ – „Sie werden gefeuert, wenn Sie mir einen großen Kaffeebecher geben?“ – „Die wollen Personalkosten sparen, denen ist jeder Anlass recht!“

Nein, in der besten aller denkbaren Welten leben wir wohl nicht, wenn Leute unter Androhung des Jobverlustes dazu gezwungen werden, zu behaupten, man könne ein Getränk nicht in ein größeres Gefäß umfüllen.

Noch eine Stunde bis Bayreuth. Dann gibt’s endlich Kraftraumkaffee und Heimathafenbier, bevor ich auf die andere Seite des Barbetriebs wechsle und verwirrten Menschen erkläre, dass ich aufgrund der Personenüberforderung eines ungeübten Barmannes leider keine großen Biere in Sektgläsern ausschenken könne.