(Dies ist eine ältere Geschichte, die ich schon längst mal hier reinstellen wollte.)
“Woanders hungern die Kinder und du willst nicht aufessen.“ Wer hat diesen Satz als Kind nicht hören müssen? Von Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen, Ferienlager-Aufsehern oder einer ungeliebten Tante.
Ein blöder Satz. Inhaltlich natürlich völlig korrekt. „Ich habe eine Nase und 1 plus 1 ist gleich zwei.“ Wer würde das bestreiten? Das Schlimme ist der konstruierte Scheinzusammenhang, der mitschwingende Vorwurf, der Versuch, den Kindern die Ungerechtigkeit einer Welt anzulasten, für die doch die Erwachsenen verantwortlich sind. Komisch eigentlich, dass mir meine Unterstufenlehrerin nie an den Kopf geworfen hat: „Du schwatzt im Unterricht und die Amerikaner bauen Atombomben“ oder: „Du hast deinen Turnbeutel vergessen und mein Mann geht fremd“. Vielleicht hatte ich einfach Glück und ihr Mann ist nicht fremdgegangen – obwohl es ihm zu wünschen gewesen wäre.
Heute denke ich manchmal: Woanders hungern die Kinder und du schreibst lustige Geschichten. Auch wahr. Auch blöd. Darum denke ich als nächstes: Die würden auch hungern, wenn ich stattdessen traurige Geschichten schreiben würde. Da ist es doch besser, mit lustigen Geschichten nichts zu ändern, als mit traurigen.
Und dann denke ich: Dann schreib halt aufrüttelnde Geschichten, wütende Geschichten, Geschichten, die nicht den Hunger bekämpfen, sondern die Gleichgültigkeit der Menschen, Geschichten, die sie zum Nachdenken über die Welt und sich selbst anregen, Geschichten, die dazu beitragen, die Menschen dazu zu bringen, etwas zu ändern! Ob du deine Brote auf isst spielt keine Rolle! Aber es spielt eine Rolle, dass du genau weißt, dass jeden Tag unzählige Menschen verhungern – Dutzende alleine während du eine von deinen lustigen Geschichten vorliest – und du schaust nur bedauernd zu, spendest ein paar Euro und schimpfst auf das System, nur um im nächsten Moment wieder die Freuden und Freiheiten, die es für uns Erstweltler bereithält, zu genießen und eine weitere lustige Geschichte mit leicht gesellschaftskritischen Unterton zu verfassen! Wahrscheinlich werden wir, unsere Eltern und vielleicht auch noch unsere Kinder, als die moralisch verkommensten Generationen aller Zeiten in die Geschichtsbücher eingehen – eben weil wir genau wissen, was vor sich geht und eben weil wir es schrecklich finden und es trotzdem hinnehmen.
Kommt die KdF-Kaffeefahrt an einem mit Juden beladenen Viehwaggon vorbei. Meint ein Ausflügler: “Schrecklich, schrecklich. Wir fahren ins Grüne und die Armen fahren ins KZ. Apropos, hab ich Dir erzählt, dass wir das Porzellan von den Goldsteins ganz billig ersteigert haben?” So sind wir, mach doch da mal ‘n Text drüber!
So denke ich manchmal und dann habe ich eine Idee für einen lustigen Text und schreibe lieber den, weil ich viel besser darin bin, die Leute zum Lachen zu bringen, und weil mir das viel mehr Spaß macht, und weil ich gar nicht wüsste, was ich in den Text über den Hunger schreiben sollte, von den Tatsachen, die alle kennen, mal abgesehen. Ich hab nur Wut und Angst und ein schlechtes Gewissen – und keine Ahnung, was man tun soll. Bloß so ein paar bizarre Täume von einer besseren Welt, die sich sofort in Nichts auflösen, wenn ich darüber nachdenke, ob und wie diese Träume wahr werden könnten.
Und ich tröste mich mit dem Gedanken, dass meine Geschichten die Welt zumindest nicht schlechter machen, und werfe Bettlern Geld in den Hut und habe bescheidene Daueraufträge für Brot für die Welt, Mediziner ohne Grenzen und den World Wildlife Fund eingerichtet, und manchmal schicken die mir Post, in der drin steht, dass das sehr nett von mir sei. Der WWF hat mir einmal sogar einen kleinen Notizblock geschickt, auf dem steht der Aufruf „Rettet die Wale!“ und darüber steht mein Name und zusammen sieht das aus, als wollten sie schreiben „Volker Strübing rettet die Wale“, und ich denke: Einer muss es ja machen! oder Ich rette schon die Wale, soll sich jemand anders um den Hunger kümmern – Herrgott, was soll ich denn noch alles erledigen?! und schwupps! wird das hier auch schon wieder ein lustiger Text. Ich kann eben nichts anderes.
Aber dann lese ich ein bisschen Spiegel oder FAZ und beruhige mich wieder, wenn ich erfahre, dass man kein schlechtes Gewissen haben muss, das sei nur dummes Gutmenschentum, und wer den Hunger bekämpfen wolle, solle die Hungernden am besten sich selbst und der freien Marktwirtschaft überlassen. Na dann.
Trotzdem: Für sachdienliche Hinweise betreffs „Verbesserung der Welt“ bin ich immer dankbar. Aber kommt mir nicht mit: „Immer schön aufessen“!
(Volker Strübing)
PS: Vielen Dank an die Person, der das “V.S. rettet die Wale” aufgefallen ist. Falls sie das liest.
Also ich würd schon immer schön aufessen: wegen des Wetters!
neenee daniel, dank dem klimawandel werden wir genug sonne haben und gehabt haben und werden oder so.
also nicht aufessen, damit es regelässiger regnet und der boden nicht so austrocknet.
ich habe mal zu meiner mutter gesagt, sie kann ja das was übrig bleibt in die dritte welt schicken. das war mein ernst. ^^
hachja als kind denkt man ja so einfach…
Vielleicht bist du darin gut, die Leute zum Lachen zu bringen, aber mich hast Du auch nachdenklich gemacht… geschmunzelt habe ich trotzdem
lieber volker, ich finde es toll, auch sowas von dir zu lesen. und ich lass mich auch gern nachdenklich machen.
lachen machen IST weltverbesserung. man (also Du, ich und die anderen) kann dafür sorgen, dass man nach seinen eigenen maßstäben ein anständiger mensch ist.
bißchen wale retten ist aber sicher auch unschädlich ;)
Das hast du aber jetzt nicht wirklich ernst gemeint?
Weil dem Arbeitlosen draußen auf den Straßen geht es trotz (oder wegen?) der freien Marktwirtschaft nicht gut. …und da soll es durch die freie Marktwirtschaft in Afrika besser werden? Nee. Man muss den schon helfen – also die berühmte »Hilfe zur Selbsthilfe« geben. Was man nicht darf, ist ihnen alles geben, was sie brauchen: sie sollen ja lernen, es sicht selbst herzustellen. Egal ob es um die Nahrung oder den Schaukelstuhl geht.
Ich bezweifel, dass die freie Marktwirtschaft Schulen baut…
Erinnert mich an: “Wie kannst Du nur Lachen, wo doch Jeusus für Dich am Kreuz gestorben ist!”
Mögliche Antwort auf “Woanders hungern …”:
“Woanders hungern die Kinder und Du kochst immer mehr, als wir essen können!” ;-)
Irgendwie aus der Seele gesprochen – wie gelingt das denn?
Ich hab’ mal in jungen Jahren in einer Plattenrezension bemängelt, dass die Texte sich ausschließlich mit dem Thema “Saufen & Sex” befassen.
“Muss das denn sein?”, schrieb ich enthusiastisch, “Da hat man mal die Möglichkeit, was Sinnvolles in die Welt zu tragen und kommt mit so’nem Schrott daher.” (Nach Veröffentlichung wurde ich vom Bandmanager verbal als “Spaßbremse” ziemlich zusammengefaltet).
Und nun?
Schreib ich auch “lustige Texte”.
Nach dem Lesen dieses Blogs muss ich jetzt einmal mehr in mich gehen…
(geht heute grübelnd zu Bett)
@ das_sascha:
Ich nicht, aber Spiegel und FAZ sehr wohl …
@ Flusskiesel:
Das ist geil :))
Schade, dass ich da als Kind nicht drauf gekommen bin!
@goodytales
Ich hoffe, Du hast gut geschlafen und kannst jetzt wieder lustige Texte schreiben!