Weblog & Podcast von Volker Strübing

Ich muss schreien und habe keinen Mund

Datum: 25.08.15
Kategorien: Uncategorized

Immerzu nehme ich mir vor, ein paar Bücher zu empfehlen, und nie tue ich es. Doch heute soll es sein. Um mein Gewissen ein wenig zu erleichtern, denn gute Bücher nicht weiterzuempfehlen ist eine Sünde, die, wenn es einen gerechten Gott gäbe, im Leben nach dem Tode bestraft würde mit einem Mitgliedsausweis der Bibliothek der Hölle (die zu einem nicht unwesentlichen Teil aus deutschen Krimis besteht, desweiteren aus Büchern mit Titeln nach dem Muster „Der/die/das Dings, der/die/das Dings dingste und noch was“ sowie dem ewig letzten Band von „Das Lied von Eis und Feuer“).

Vor einiger Zeit habe ich bereits Kirsten Fuchs’ Buch „Mädchenmeute“ empfohlen, aber leider nur bei Facebook, weshalb ich das hier mit großer Freude noch einmal wiederhole, zumal ich für Facebook ein sehr schönes Werbefoto gemacht habe:

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(Kloß und Spinne empfehlen Mädchenmeute von Kirsten Fuchs. Wobei Kloß sagt: “Hätt ichs bloß nicht angefangen zu lesen, dann wäre ich auch nicht traurig gewesen, als es zu Ende war.”)

Das Buch ist sehr toll, und ich hoffe, ihr glaubt mir, auch wenn Kirsten eine Freundin von mir ist. Aber dafür kann ja ihr Buch nichts, und ihr solltet in diesem Fall nicht an meinem Urteilsvermögen zweifeln, weil euch sonst ein spannendes, lustiges, zum Verlieben schönes Jugendbuch für alle Altersklassen entgeht! Davon abgesehen freut es mich auch immer, wenn eine Meisterin oder ein Meister der Kunst der kurzen Texte auch die Herausforderungen eines Romanes meistert.

Heute kommen noch zwei Sachbuchempfehlungen:
„Kongo – Eine Geschichte“ erzählt die Geschichte des Kongo anhand von kleinen Geschichten. XYZ versucht, soweit möglich, ein Panorama der Politik, der Wirtschaft und des Lebens im Kongo seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu zeichnen. Das funktioniert nicht immer, da er parallel die Fakten wie ein Geschichtsbuch vermittelt – was natürlich für jeden, der, wie ich, mit der kongolesischen Geschichte nicht unbedingt auf Du und Du ist, auch eine Vorraussetzung für das Verständnis der individuellen Geschichten ist. Meist gelingt ihm dieser Spagat sehr gut. Was wusste ich vom Kongo? Dass es viel Wald gibt und dass dort Gorillas leben, das waren die beiden einzigen positiven Sachen, ansonsten fielen mir Stichworte wie „Herz der Finsternis“, Sklaverei, Bürgerkrieg, abgehackte Hände, Kindersoldaten und schlimmeres ein. All das findet sich im Buch, viele der Geschichten sind nur schwer zu ertragen, und doch ist das Bild insgesamt bunt und vielschichtig und manchmal schön und voller Hoffnung. Außerdem ist e verdammt gut geschrieben, spannend mitreißend, menschlich. Ganz am Schluss wird es mit dem Verständnis schwierig: Den Überblick über all die Fraktionen, Rebellengruppen und wechselnden Allianzen zu behalten, war mir unmöglich. Aber das ist wohl eher ein Symptom eines Bürgerkrieges in einem zersplitterten, zerfallenden Land als ein Fehler des Buches.

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(Die Symbolik der umgedrehten Eierschale im DDR-Eierbecher und der Blume im NSA-Schnapsglas ist so offensichtlich, dass ich mir eine Erklärung an dieser Stelle sparen kann.)

Gerade lese ich „Secondhand Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“. Ein Buch, das ganz auf Geschichtsschreibung verzichtet und nur Geschichten erzählt. Protokolle von Gesprächen mit Menschen, die den Fall der Sowjetunion miterlebt haben. Einfache Bürger, kleinere Funktionsträger, der eine oder die andere, die ein Stück weiter oben auf der Leiter standen. Viele alte Menschen sind darunter, die sich noch an Stalin und den Krieg erinneern, einige sogar an die Zeit der Revolution (die Interviews fanden schon in den Neunziger Jahren statt).
Ich habe bis jetzt etwa ein Drittel gelesen. Auffällig ist, dass beinahe alle „die Wende“ verfluchen. Das mag an der Auswahl der Interviewten liegen, erklärt sich aber zu Teil sicher auch daraus, dass die Umbrüche dort tausendmal größer waren als hier. Und es gab keine „Westsowjetunion“, die die Menschen auffing/aufnahm/aufkaufte. Stattdessen brach der Wilde Osten aus, es gab einen Putsch und Lebensmittelmarken und eine Explosion der Kriminalität.
Sehr auffällig ist, wie die meisten Interwiewten den Verlust von Idealismus beklagen, wie immer wieder die Küche als (verlorengegangener) Ort des Beisammenseins und Diskutierens auftaucht, und wie die Rolle der Literatur für das Leben in der Sowjetunion bis in die Wendezeit beschworen wird. Entsetzlich sind die Geschichten aus der Zeit des Stalinismus. Von Willkür, Folter, Verrat, der absoluten Wertlosigkeit des Lebens. Unglaublich, wie viele der Interviewten Stalin und dem Kommunismus vergaben, auch wenn sie selbst Opfer waren, jahrelnag inhaftiert und Folter ausgesetzt, auch wenn sie die Frau in einem der Lager verloren.
Ein irres Buch. Zum Heulen schön und traurig. Ich habe jetzt erst einmal eine Pause gemacht, suche mir irgendwas Leichtes zwischendurch, weil die geballte Ladung doch sehr an die Nieren geht (zumal ich gleich nach dem Buch über den Kongo mit diesem angefangen habe).

Seit vielen Jahren lese ich eigentlich nur Romane und Sachbücher. Kaum Anthologien, Erzählungen, Kurzgeschichten. Dabei habe ich fast vergessen, dass im Science-Fiction-Bereich die Kurzgeschichte oder Erzählung wirklich die Königsdiziplin ist und – um mal zwei Klassiker zu nennen – jede Short Story von Lem oder Dick mehr Ideen und Tiefe enthält als die meisten 700-Seiten oder 18-Bände-Werke.
Ich habe wieder angefangen, mich damit zu beschäftigen.

„Ich muss schreien und habe keinen Mund“ fiel mir natürlich wegen des Titels auf. Ich hab kurz geguckt, eigentlich ohne große Hoffnung, dass es etwas für mich wäre, weil ich es für einen dieser Millionen Psycho-Thriller hielt, bei denen sich die Autoren in Sachen Grausamkeit zu übertrumpfen versuchen. Aber es handelt sich tatsächlich um SF-Geschichten, finster, sarkastisch, schräg. Aber keine Horor. Obwohl ich eigentlich schon vom Titel des Buches Alpträume kriegen könnte. Im Übrigen sind die Titel der Geschichten schon für sich genommen ein Lesevergnügen: „’Bereue, Harlekin!’, sagte der Ticktackmann“, „Die Bestie, die im Herzen der Welt ihre Liebe herausschrie“ oder „Der Mann, der Christoph Kolumbus an Land ruderte“

Vom tollen Golkonda-Verlag aus Berlin Biesdorf kommt „Pol Pots wunderschöne Tochter“ von Geoff Ryman. Sechs Erzählungen, die oft wie eine Mischung aus Märchen und SF wirken. Kambodscha und kambodschanische Geistergeschichten spielen eine wichtige Rolle. Insbesondere die Titelgeschichte und die Novelle „Das unbesiegte Land“ sind wunderschön und von sehr eigener Atmosphäre.

Ebenfalls aus dem Golkonda-Verlag kommt „Der Spieler“ von Paolo Bacigalupi. Auf dem Foto ist der Roman „Biokrieg“ desselben Autors abgebildet, der trotz seines dussligen deutschen Titels (im Orginal „Wind up girl“ – Aufziehmädchen) einer der besten SF-Romane ist, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Um so mehr hat es mich gefreut, dass einige der Erzählungen in „Der Spieler“ in der selben Welt spielen. Der Autor ist ebenso wie Geoff Ryman offensichtlich von Asien fasziniert, auch sein Roman und viele seiner Geschichten spielen dort. Alles weitere muss ich jetzt euch überlassen, ich sitze schon wieder viel zu lange an diesem Beitrag. Aber falls irgendjemand irgendeins dieser Bücher liest, hat sich die Arbeit fast schon gelohnt …

Viel Spaß beim Lesen!