Weblog & Podcast von Volker Strübing

60 Millionen Pralinen

Datum: 23.09.12
Kategorien: Sonst so

Ehrlich, ich mag Facebook. Und kann dieses von Unwissenheit und Neophobie geprägte „Meine Daten, meine Daten, ach du lieber Gott, meine Daten!“-Gejammer mancher Leute nicht mehr hören. Als sei eine Anmeldung bei Facebook dasselbe ist wie ein Einzug in den Big Brother Container!

In letzter Zeit allerdings ist es sogar mir ein bisschen unheimlich geworden. Wahrscheinlich werde ich einfach mit dem Alter immer ängstlicher und konservativer. Ich kämpfe dagegen an, aber ganz kann ich es offenbar nicht verhindern.

Neulich jedenfalls tauchte am rechten Rand Werbung für eine Single-Börsen-App auf. „60 Millionen Singles zum Greifen nahe“, versprach sie. Darunter standen die Namen zweier Facebookfreunde, die diese App benutzten. Dies warf einige Fragen auf. Zuallererst, welchen Sinn die Angabe meiner beiden Facebookfreunde haben sollte, handelte es sich bei ihnen doch um ältere Herren. Solange sich in meinem Freundeskreis keine Frauen fanden, die die App benutzten, musste sich eine eventuell erhoffte Werbewirksamkeit dieser Maßnahme in ihr Gegenteil kehren. Desweiteren fragte ich mich, ob die beiden wussten, dass ihre Namen von der App zu Werbezwecken verwendet wurden. Wahrscheinlich nicht, aber das war selbstverständlich ihre eigene Schuld, hätten sie sich doch die Nutzungsbedingungen etwas genauer angeschaut!

Auch der Werbespruch verfehlte seine beabsichtigte Lockwirkung bei mir vollkommen: 60 Millionen Singles! Zum Greifen nahe! Das wollte ich nicht, das waren mir eindeutig zuviele, selbst wenn es sich bei diesen 60 Millionen nicht durchweg um ältere Herren handeln sollte, sondern um Frauen, die mir einzeln durchaus zu gefallen wüssten. Und auch wenn „zum Greifen nah“ sicher nicht wörtlich zu verstehen war, stellte sich bei mir dennoch sofort das Bild einer riesigen Menschenmenge ein.

Menschenmengen sind mir gruselig, sie setzen das Schlimmste in ihren Mitgliedern frei, Menschenmengen sind böser als die Summe ihrer Teile; sie haben keinen Geschmack, kein Herz und kein Hirn. Seht euch nur einmal an, wo und wann sich Menschenmengen bevorzugt aufhalten, es sind schlechte Orte und falsche Zeiten. Man trifft sie bei Fußballspielen, im Berufsverkehr, bei Sommerschlussverkäufen und Tote-Hose-Konzerten. (Manchmal auch bei Lesebühnen und Poetry Slams. Darüber muss ich noch einmal nachdenken.)

60 Millionen Singles! Zum Greifen nahe! Wie soll man sich denn da entscheiden? Amerikanische Forscher haben herausgefunden, dass Menschen, die sich aus 8 verschiendenen Pralinen eine aussuchen durften, hinterher glücklicher waren, als die Testpersonen, die die Wahl zwischen 30 Sorten hatten. Je größer die Auswahl desto größer die Angst, man hätte sich besser entscheiden können, desto größer die Unzufriedenheit; es folgen Streit, Scheidung, Alkoholismus und die regelmäßigen Familientragödien in der Tagesschau, bei denen Särge aus gesichtslosen Einfamilienhäusern getragen werden.

Bei Singlebörsen greifen alle erst einmal nach den schönsten Pralinen, doch diese sind stets nur Lockvögel und so wühlen sich Ottonormalverlierer und Petra Mustermann schließlich frustriert durch den Grabbeltisch mit abgelaufener Ware in der Hoffnung, zwischen angeditschten Hallorenkugeln und zerdrückten Edlen Tropfen wenigstens noch ein halbwegs passables Raffaello zu finden – es ist ein Trauerspiel!

(Was soll denn bei so einer Diskussion rauskommen?)

Vor allem aber fragte ich mich, wie Facebook auf die Idee gekommen war, dass ich mich für Singlebörsen interessierte. Ich hatte meinen Beziehungsstatus im Profil nicht angegeben, und wahrscheinlich war genau das der Grund: Irgendein Algorhythmus, der für die Verteilung der Werbung zuständig war, ging vielleicht davon aus, dass Menschen, die glücklich in einer Beziehung lebten, dies auch stolz auf Facebook kundtaten, das war schließlich nichts, was man geheim halten würde, nichts wofür man sich schämte. Wer da Feld nicht ausfüllte war nach dieser Logik entweder Single oder mit seiner Beziehung unglücklich, auf jeden Fall aber auf der Suche. Ganz schön perfide. Dadurch, dass ich keine Aussage machte, machte ich eben gerade doch eine Aussage, „keine Antwort ist auch eine Antwort“!

Während ich noch über die unheimlichen Implikationen meiner Entdeckung nachdachte, scrollte ich durch die Statusmeldungen. Es war die übliche Mischung aus Instagram-Bildern, Aphorismen und Links zu Musikvideos. Zwischendrin eine Menge Genörgel über die Änderungen an der Profilseite, die Facebook angekündigt hatte. Wieder so ein Sturm im Wasserglas, wie damals als die Chronik eingeführt wurde. Herrjeh, dann macht doch nicht mehr mit! Schließlich war es deren Website, sie konnten damit machen, was sie wollten und und wenn es uns hier nicht mehr gefiel, dann würden wir eben weiterziehen.

Ich schloss die Seite, rief meine liebste Bastel-Website auf und arbeitete den Rest des Tages weiter an meiner Atombombe.

Als ich mich am nächsten Tag wieder bei Facebook einloggte, stellte ich halb angewidert, halb amüsiert fest, dass anstelle der Singlebörse nun ein Sexshop für Masturbationshilfen warb. Darunter wie gehabt eine Aufzählung von Freunden, die diesen Sexshop besucht hatten. Die nächste Anzeige warb seltsamerweise für Handcreme von Nivea; eine weitere für Thor Steinar Klamotten. Man, jetzt dreht ihr aber echt durch, dachte ich. Da klingelte das Telefon.

„Strübing?!“

„Guten Tag, hier ist Wiebke Schmidt von Facebook Customer Care. Wir rufen sukszessive alle Facebook-Teilnehmer, die ihre Telefonnummer angegeben haben an, um eventuelle Fragen zur neuen Profilseite zu beantworten und mögliche Fehler und Missverständnisse auszuräumen.“

„Ähm, die neue Profilseite?“

„Ja, wir haben ein paar Änderungen vorgenommen, damit sie ihr Profil noch besser auf ihre Person anpassen können. Wurde heute nacht freigeschaltet, schauen Sie doch mal nach.“

Ich tat, wie mir geheißen.

Und kippte fasst vom Stuhl.

Es gab plötzlich Dutzende von Feldern für persönliche Angaben – und alle waren ausgefüllt.

„Habt ihr ein Rad ab?“, brüllte ich ins Telefon.

„Stimmen die Angaben nicht? Eine Software hat die wahrscheinlichsten Antworten für alle Felder auf Basis ihrer bisherigen Angaben und ihres Nutzerverhaltens errechnet, um ihnen das Leben leichter zu machen. Falls unser Algorhytmus Fehler gemacht hat, können Sie die natürlich jederzeit korrigieren.“

„Beziehungsstatus: Ich bin ein einsamer Loser und kriege langsam Hornhaut an der rechten Handfläche?!“, schrie ich. Das erklärte dann wohl die Nivea-Werbung.

„Wenn Sie Linkshänder sind, können Sie im Menü auch die linke Handdfläche auswählen.“

„Verarschen Sie mich doch nicht! Wie kommen Sie überhaupt auf diesen Scheiß?!“

„Naja, Sie haben keinen Beziehungsstatus angegeben, sich nicht für Singlebörsen interessiert und nie ‘Gefällt mir’ gedrückt, wenn jemand ein Kitschbild mit einem schmalzigen Spruch über die Liebe gepostet hat, und daraus hat die Software extrapoliert, dass sie wahrscheinlich ein notorischer Masturbierer ohne Interesse an wirklichen Beziehungen und echtem Sex sind. Es ist doch auch in Ihrem Interesse! Damit Sie nur Statusmeldungen und Werbung zu sehen bekommen, die sie wirklich interessieren.“

Ich rang nach Luft, Fassung und Worten. Wiebke Schmidt plapperte weiter: „Und es ist doch auch nichts dabei, wir verurteilen Sie ja gar nicht.“

„Es ist aber nicht wahr!“

„Dann ändern Sie es eben!“

Ich öffnete das Auswahlmenü und überflog die angebotenen Alternativen. Es war eine lange Liste, aber …

„Ähm, hören Sie, ich finde ‘Keine Angabe’ nicht.“

„Ja, das gibt’s ja auch nicht mehr. Das haben wir durch ‘Ich bin so pervers, dass ich nicht darüber sprechen will’ ersetzt. Wissen Sie, die Idee hinter Facebook ist doch das Teilen von Informationen mit Freunden. Es ist doch ein ziemlich unsoziales Verhalten, bei anderen den Beziehungsstatus zu checken und den eigenen geheimzuhalten. Wir wollen Facebook gerechter und sozialer machen. Hand auf’s Herz, haben Sie noch nie bei jemandem nachgeguckt, ob er oder sie in einer Beziehung ist?“

„Naja … schon, aber …“

„Und außerdem, um mal unseren Chef, den Marc, zu zitieren: ‘Wer nichts zu verstecken hat, hat auch durch Transparenz nichts zu befürchten.’ Gerade Ihnen als Nazi müsste das doch gefallen!“

„Was?!“ Tatsächlich, unter „Politische Ansichten“ stand „Faschist“.

„Sie sind doch Nazi, oder? Weil, wenn Sie ein verfassungstreuer Demokrat wären, hätten Sie ja kein Problem damit gehabt, die Spalte auszufüllen und da hat der Algorhythmus gefolgert …“

„Ja, ich verstehe schon!“, sagte ich. „Und ich weiß ja auch, dass die Idee dahinter gut ist, aber wissen Sie … ich weiß nicht, ob das noch was für mich ist, löschen Sie doch bitte mein Profil. “

„Ich kann ihren Login gerne löschen. Dann können Sie aber auch Fehler in ihrem Profil nicht mehr ändern, denn das bleibt natürlich bestehen. Das ist Eigentum von Facebook. Wenn Sie sich mit ihrer Mutter verkrachen, gehen Sie doch auch nicht zu ihr und reißen sämtliche Fotos von sich selbst aus Muttis Fotoalben. Und außerdem: Das finde ich sehr unanständig von ihnen, Herr Strübing. Jahrelang haben Sie unseren Service genutzt und nichts haben Sie je zurückgegeben. Nicht auf eine einzige Werbeanzeige haben Sie geklickt, wie ich gerade sehe. Sie haben unsere Arbeit, unsere Server, unsere Energie genutzt, um ihren Spaß zu haben, Sie Schmaotzer, Sie haben, wie ich gerade sehe, kostenlos bei uns Werbung für ihre Lesungen gemacht, und als einzige klitzekleine Gegenleistung bitten wir um ein paar Informationen, und die wollen Sie uns jetzt wieder wegnehmen! Was für ein schlechter Mensch Sie doch sind“

Sie weinte. Und ich sah nun ein, dass sie Recht hatte und ich ein schlechter Mensch war. Zum Glück war das entsprechende Feld in meinem Profil schon korrekt ausgefüllt.

„Ist ja gut, ist ja gut“, lenkte ich ein. „Ich bin Ihnen allen ja auch dankbar für ihre Arbeit. Also gut. Ich lass mir das alles nochmal durch den Kopf gehen.“

Ich legte auf, änderte meine politische Anschauung in „Islamist“, meine Religion in „Hinduismus“ und meinen Beziehungsstatus in „Ich ficke deine Mutter und es ist kompliziert“, dann schaltete ich den Computer aus und ging in den Park, um meine Atombombe endlich einmal auszuprobieren.

(Volker Strübing)

9 thoughts on “60 Millionen Pralinen

  1. Großartiger Text! Ist allerdings auch wieder einer von der Sorte, die mir als begeisterter Facebook-Nutzer immer Angst machen. Ein Glück, dass ich meinen Beziehungsstatus angegeben habe…

  2. Du assoziierst die Nichtnutzung von facebook mit “dumm” oder “phobisch”?

    Das, lieber Volker, macht mich traurig!

    Oder habe ich es einfach nicht verstanden, mich blenden lassen von deinem Text?
    Ich bin froh, dass ich zu denen gehöre, die noch nachdenken und mich gegen die Nutzung von myspace, lokalisten, studivz, facebook, vkontakt entschieden habe.

  3. Hätte gerade fast auf den “gefällt mir”-Button geklickt. Kann ich natürlich nicht machen. Würde ja konterkarieren, wenn ich jetzt “guter Post” schreibe – habe schallend gelacht ;-)

  4. Ich weise darauf hin, dass der obige Tom nicht mit mir identisch ist. Ich finde Facebook doof, und außerdem ist es fantastisch schlecht programmiert.

  5. Das mit den verschiedenen Toms kennen wir ja schon ;) Ich bin der Tom ehemals mit Link, immer noch der Alte für alle, die sich noch erinnern können, nur jetzt eben auch ohne Link, was das Auseinanderhalten nicht einfacher macht.
    Na wie dem auch sei. Dass Facebook schlecht programmiert ist, dürfte inzwischen jedem aufgefallen sein. Ich persönlich finde Google+ auch deutlich schöner, aber 1. ist Google was Privatsphäre und Datenschutz angeht natürlich auch kein Stück besser und 2. nützt einem ein Soziales Netzwerk ohne andere Leute rein gar nichts :D

    PS: Ich bin hier scheinbar der einzige, der Smileys verwendet, daran könnt ihr mich erkennen ;)

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