Weblog & Podcast von Volker Strübing

Big Jack und die Ja!-Quark-Lady

Datum: 11.04.15
Kategorien: Uncategorized

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Und da stand ich nun. An der Kaisers Kasse im Hauptbahnhof, mit meinen schönen neuen Kopfhörern um den Hals und dem 1.-Klasse-Upgrade-Gutschein in der Jacketttasche, mit dem Griff des Rollkoffers in der einen und einer Packung Sushi für die Fahrt in der anderen Hand. Und vor mir legte eine alte Dame einen Pfandbon auf die Geldschale, knubbelte mit störrischen Fingern sieben einzelne Centstücke aus einer verschrabbelten Geldbörse und legte sie dazu, um eine Packung Ja!-Quark, einen Ja!-Schokopudding und eine Flasche Fanta zu bezahlen.
Die Kassiererin nahm Geld und Pfandbon ungerührt entgegen. Solche Kunden waren hier nichts besonderes, vielleicht kannte sie sogar diese spezielle Dame; vielleicht kam sie regelmäßig hierher, um die Ausbeute eines Flaschensammeltages in Ja!-Quark und Fanta umzusetzen.
Von Pfandbons bis zu goldenen Kreditkarten erlebte die Kassiererin wohl in jeder Schicht die ganze Bandbreite bargeldloser Zahlungsmittel, von Samsonite-Rollkoffern bis zu Flaschensammler-Trolleys war alles an Gepäckstücken vertreten, der Duft überdosierten teuren Parfüms wehte ihr genauso oft um die Nase wie der intensive Geruch nach ungewaschenem Mensch.
Die Ja!-Quark-Dame stank nicht, war nicht ungewaschen, wirkte nicht ungeflegt, sondern einfach nur arm. Sie trug irgendetwas formloses, eine Art Jogginghose, hellblau, und eine weinrote Strickjacke, ihre Haare waren schütter und grau. Ihr Gesicht war einfach nur lieb. Super lieb. Sympathisch und traurig und ihre größte Sorge schien es zu sein, niemandem zur Last zu fallen.

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“Da fehlen noch zwei Cent”, sagte die Kassiererin.
“Oh oh oh” Die Frau fischte hektisch in ihrem Portemonnaie fand zwei weitere Centstücke und reichte sie erleichtert der Kassiererin.
“Danke, einen schönen Tag noch.” Sie griff nach meinem Sushi und zog es über den Scanner. Eine Sekunde später landete es neben dem Ja!-Quark im … ähm … Waren-Auffangbecken und die Frau schaute kurz zu mir hoch und lächelte entschuldigend – so sah es zumindest aus.

Und ich kam mir so unglaublich doof vor. Mit meinem Sushi, mit meinem Upgrade-Gutschein in der Jacketttasche, mit meinen schönen neuen Kopfhörern und dem Rucksack voller lustiger Geschichten und dem Rollkoffer voller Netzteile und Kabel und Fotoapparate und Bügelfrei-Hemden.
Ich hab es so gut gelernt, die Armut um mich herum zu übersehen. Meinen ersten Bettler sah ich live als ich 18 war, am 10.11.1989 bei meinem zweiten Besuch in Westberlin und ich war geschockt, obwohl ich natürlich wusste, dass es sie gab. Heute gehe ich jeden Tag an was weiß ich wievielen vorbei und muss mich zusammenreißen, um nicht aufzustöhnen und mit den Augen zu rollen, wenn der dritte Motzverkäufer in die S-Bahn steigt. Das Elend nutzt sich ja auch irgendwann ab, und überhaupt, ich habs weiß Gott auch nicht leicht und dann sind da ja auch noch die sprichwörtlichen Kinder in Afrika, die froh wären, wenn sie sich mit ein paar leeren Flaschen so einen schönen Ja!-Quark verdienen könnten.
Ich werfe relativ oft (so bilde ich mir zumindest ein) Münzen in Hüte, Becher, manchmal sogar in Instrumentenkoffer und wenn ich es tue, bemühe ich mich, irgendwie mit den betreffenden Personen zu kommunizieren, damit es sich für uns beide nicht so seltsam anfühlt, nach Almosen und Ablasshandel. Viel häufiger gehe ich jedoch vorbei und denke: Ich kann doch nicht jedem was geben. Und ich habs doch eilig. Oder ich denke gar nichts, sondern schaffe es, sie zu übersehen.

Und manchmal, zum Glück ganz selten, macht es mich sehr, sehr traurig. Vorgestern an der Kaiserskasse zum Beispiel. Keine Ahnung, was im Leben der Dame falsch gelaufen war, ob sie ein paar falsche Entscheidungen getroffen oder einfach nur Pech gehabt hatte. Ob sie zu schwach, zu langsam, zu dumm, zu lieb war für die Welt. Keine Ahnung im Übrigen, wie arm sie wirklich war — man hört ja immer mal wieder Menschen mit schicken Klamotten und gepflegten Fingernägeln mit ironischen Lächeln sagen, dass “die” wahrscheinlich mehr Geld haben als “wir” und sich zudem noch die Zeit frei einteilen könnten und steuerfrei sei das Pfandgeld auch und dazu noch Hartz-IV ohne einen Finger krumm zu machen, so gut hätt ichs auch gern mal!

Ich weiß nicht, ob sie ihren Weg vielleicht selbst gewählt oder sich wenigstens eine Geschichte bereit gelegt hatte, die davon erzählte, wie sie selbst den Weg Richtung zu Pfandbons und Magerquark eingeschlagen hatte; eine Geschichte, mit der sie ihre Würde und Freiheit vor sich selbst und anderen verteidigte.
Und ich weiß nicht, wie ich es geschafft hatte mich an all das Elend inmitten von Reichtum zu gewöhnen, an diesen Skandal, der nicht dadurch besser wird, dass es anderswo noch schlimmer ist. Warum habe ich häufiger schlechte Laune aus Neid gegenüber denen, die mehr haben als ich, als aus Wut wegen oder Mitgefühl für die, denen es noch viel schlechter geht?

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Ich fuhr gestern, Freitag, nur von Berlin nach Hamburg. (Eine viel zu kurze Strecke, um dafür einen Upgrade-Gutschein zu verschwenden – den habe ich mir für heute aufgehoben, da ich heute achteinhalb Stunden im Zug verbringe.)
Ich kam gegen 9 in Hamburg Altona an (der Slam im Zeisekino sollte erst 22.30 Uhr beginnen) und am Ausgang saß eine alte, richtig alte Frau auf der Sitzfläche ihres ollen Rollators. Neben sich hatte sie eine Decke ausgebreitet auf der sie allen möglichen Krempel ausgebreitet hatte.
Alte arme Frauen sind sozusagen mein Beuteschema bzw. umgedreht ich ihres. An Omas im Rollstuhl mit Spendenbecher oder Großmütterchen mit krepeligen Stiefmütterchen, den Strauß für 1 Euro, komme ich generell nur sehr schwer vorbei. Ich hatte es trotzdem fast geschafft, doch dann drehte ich mich doch noch einmal um, ging erneut an ihr vorbei, in den Bahnhof zurück, beobachtete sie von dort aus, sie und die vielen Menschen, die an ihr vorbeirannten. Dann schlich ich nocheinmal an ihr vorbei und traute mich noch immer nicht, irgendetwas von ihr zu kaufen. Ich schämte mich. Ihr gegenüber, vor allem aber den Passanten gegenüber, ich weiß nicht warum. Es war mir peinlich dieser Oma etwas abzunehmen, vielleicht weil so offensichtlich war, dass dieses “Geschäft” nur Alibi wäre. (Dabei brauchte ich den Big Jack doch wirklich und unbedingt, wie hätte ich sonst diesen Beitrag illustrieren sollen?)

Nach der vierten Passage traute ich mich endlich, sie anzusprechen.

Sie wollte 2,50, ich gab ihr 5, dann hatte ich ein schlechtes Gewissen den anderen Leuten gegenüber, die sich dort um ein paar Münzen bemühten, gab einem Punkermädchen noch 50 Cent und lief los durch Altona in Richtung der Zeise-Kinos und die Straßen waren voller feiernder, trinkender, lachender Jugendlicher und in meiner Stimmung und mit einem seltsamen Musikstück eines seltsamen Musikers namens Arvo Pärt auf den Ohren kam mir das alles wie der elfte Kreis der Hölle vor und ich ärgerte mich, dass ich nur lustige Texte zum Vorlesen hatte, aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte.
Das Sushi war übrigens ganz okay, ich esse es eigentlich sowieso nur wegen der eingelegten Ingwerschnipsel.

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Danke an alle, die mir bei Facebook halfen, als ich fragte, ob jemand die Puppe (Big Jack, eine Figur aus der 70er-Jahre-Actionfigurenserie “Big Jim”) identifizieren könne!

Danke auch für den Hinweis, dass ich in einer früheren Version des Textes von “Samsonit”-Rollkoffern geschrieben habe. Obwohl mir die Idee eigentlich gefällt – Samsonit, das Kryptonit für Bahnfahr-Man.

17 thoughts on “Big Jack und die Ja!-Quark-Lady

  1. Hallo Herr Strübing,

    Sie beschreiben da Dinge die vermutlich vielen Menschen immer (mal) wieder geschehen oder widerfahren. Ich danke Ihnen etwas niedergschrieben zu haben, das zumindest mir seit langem sehr bekannt ist.

  2. Hey,

    wirklich toll geschriebener und introspektiver Beitrag. Vielen geht es so, dass sie an armen, bettelnden Menschen vorbeigehen. Ich gehöre auch zu jenen, die dann doch wieder ein schlechtes Gewissen bekommen, obwohl man es tatsächlich nicht schafft, es allen recht zu machen. Und wie häufig hört man, dass es sich bei den meisten Bettlern um Mitarbeiter eines ganzen Bettelkartells handeln soll, die dann im Nachhinein von einem dicken Mercedes abgeholt werden und in Saus und Braus leben? Moderne Mythen vermischt mit der Angst, irgendwem auf den Schlips zu treten. Sicher ist auf jeden Fall, dass man sein Handeln oder Nicht-Handeln immer mal wieder hinterfragen sollte. Danke für den Anreiz!

  3. Moin!
    Wie ist das eigentlich mit der allwöchentlichen Mail vom Schnipselfriedhof, bleibt die nun aus, oder zieht die mit um?
    Beste GrüBe von der
    Creme de la Creme

  4. Witzig geschriebene Gedankengänge, die viele in der Großstadt sicherlich haben.
    Mir sind diese Gedanken oft gekommen als ich als Consultant am Frankfurter Hauptbahnhof gelebt habe und für 20 € Sushi gegessen habe, während vor der Tür jemand auf dem Boden liegt und sein Heroin genießt.
    Gegeben habe ich selten etwas und tue das heute auch kaum. Denn trotz eines guten Jobs muss ich mein Geld auch zusammen halten. Ich habe eine Frau und ein Kind, für die ich verantwortlich bin, zahle 50% Abgaben von meinem Gehalt, habe eine kleine sauteure Wohnung und ein gebrauchtes Auto ohne großen Motor, nach dem sich keiner umdreht, das aber auch Benzin, Steuern, Versicherung, etc. kostet.

    Und dann frage ich mich: Warum soll ich von meinem Geld, für das ich so hart arbeite und auf so Vieles verzichte noch 5€ jemandem geben, der sich davon wahrscheinlich betrinkt.
    Ich glaube die meisten dieser Bettler sind zum Großteil selbst an ihrer Situation schuld. Niemand wird zum Alkoholismus gezwungen oder überteuerte Schrottimmobilien in Leipzig zu kaufen und sich damit zu ruinieren. Man trifft diese Entscheidungen selbst. Auch ob man von seinem Hartz4 bei H&M schöne Kleidung kauft und einen einfachen Job sucht oder lieber eine Flasche Aldi-Wodka und stinkend in der Fußgängerzone sitzt.

  5. Lieber Martin Sommer,

    Sorry, aber den zweiten Teil ihres Kommentars finde ich zynisch.
    Sicherlich, jeder von uns trifft Entscheidungen und ist für diese Entscheidungen verantwortlich.
    Und dennoch ist nicht jede Entscheidung, die wir treffen, ganz frei und nicht bei jeder Entscheidung sind die Folgen ganz abzuschätzen.
    Sicherlich gibt es soziale Sicherheitsnetze und Hilfen, aber es gibt immer auch Fälle, in denen diese nicht greifen. Vielleicht haben Sie das nie so erlebt, ich, Gott sei Dank, auch nicht, aber nicht jedem ist die Schuld an seinem Schicksal selbst zuzuschreiben. Und selbst wenn jemand im Nachhinein betrachtet Mitschuld an seinem Schicksal trägt: Niemand, auch sie nicht, profitiert davon, mit dem Finger drauf zu zeigen und laut “Haha – Selber schuld” zu brüllen.
    Ich weiß nicht, welches Schicksal die Dame, von der Volker Strübing hier schreibt, hatte. Genauso wenig wie Sie. Und trotzdem ist es eine Realität, an der ich selbst viel zu oft vorbei gehe. Trotzdem tut diese Frau mir Leid und rührt sie mich an. Und trotzdem ist mir Scheißegal, was diese Frau in ihre Situation gebracht hat, aber ich würde sie gerne fragen, wie es sich für sie anfühlt, wenn verheirateter Familienvater mit seinem spritfressenden Gebrauchtwagen an ihr vorbei fährt, das Fenster runter lässt und ihr ein “Na, da haben Sie wohl ne Scheißentscheidung getroffen in ihrem Leben” zuruft.

    1. … wage ich auch zu bezweifeln, dass jemand “nicht dazu gezwungen wurde”, bzw.: es “sich selbst ausgesucht” habe, in der Gosse zu sitzen und sich ggf. noch mit billigem Fusel vollaufen lassen zu müssen. Es wurde auch niemand dazu geboren, um lebenslang als ignoranter Lohnsklave dahinzuvegetieren und die eigene schäbige Existenz als selbstachtungsloser Kriecher vor sich und der Welt damit zu rechtfertigen, dass man sich lediglich in sein strukturalismusbedingtes Karma fügt und seine harte Arbeit als funktionierendes Rädchen im Getriebe eines menschenverachtenden und selbstzerstörerischen Systems zur vollsten Zufriedenheit seiner Herren erledigt. Wie benebelt, weltfremd und verantwortungslos muss man eigentlich sein, wenn man in diese Welt noch Kinder setzt?

  6. Ja, aber Martin Sommers Kommentar habe ich als ironisch verstanden. Sushi für 20 EUR, Consultant, auch irgendwie kein richtiger Beruf, dann so einen Satzbau, also bitte!

  7. Tolle Geschichte über dein Schuldbewustsein und dein Selbstmitleid weil du doch kein böser Mensch sein möchtest und doch spürst das du irgenwie doch Mitschuld am Versagen unserer Gesellschaft trägst.Macht mir persönlich auch keinen Spass mehr, also gebe ich gerne mal den einen oderen anderen Euro einen Menschen in der Fussgängerzohne oder mal etwas vom Bäcker um mit denen gemeinsam zu Frühstücken…dabei schaue ich mir die Penner im Nadelstreifen anzug an oder die Typen die mit ihren Koffern vorbeilaufen und den Schwanz einziehen weil sie Angst haben um ihr Image. Ja…das wollen wir doch, solche Ellenbogengemeinschaft die lieber Arschkriecherkarieren anstrebenund über Verelendung jammern , sich aberr zu Schade für die Montagsdemo sind…Make Love!

    1. Hallo Orbit,

      Du hast natürlich Recht: mich darüber zu beklagen, dass mich der Anblick armer Omas traurig macht, ist mehr Selbstmitleid als alles andere. Man könnte es sogar als die nette Entspechung des 80er-Jahre-Juppe-Spruches “Eure Armut kotzt mich an” bezeichnen.
      Allerdings geht es in dem Beitrag auch genau um diese Dinge und Fragen. Und auch sie können den Impuls liefern, darüber nachzudenken, was man oder ob man etwas tun kann/will/muss, um etwas an diesem Zustand der Welt zu ändern.
      Was die Montagsdemos angeht, so kann ich für mich und einige andere Menschen, die ich kenne und schätze sagen, dass es nicht darum geht, dass man sich zu schade wäre, sondern dass man sich nicht mit dem bei Montagsdemos oft vertretenen Ideologiemix anfreuden kann.

  8. “Wer arm ist, ist selber Schuld” und sein Zwillingsbruder “Wer reich ist, hat es sich verdient” – die beiden ideologischen Grundpfeiler des Neoliberalismus (bzw. des Liberalismus allgemein). Wenn diese Mythen wegbrächen bliebe von dieser Ideologie nur noch plumper, brutaler, unfairer Sozialdarwinismus übrig.
    (Ja, der Beitrag von Martin ist ironisch, aber er ironisiert ja eine Haltung, die tatsächlich weit verbreitet ist.)

  9. Die von Martin transportierte Haltung ist nicht so unüblich, gerade unter Menschen die den von Dir zititierten neoliberalen Glaubenssätzen anhängen. Es gibt nicht wenige, die sich vom Anblick der Armut belästigt fühlen und meinen einen Anspruch darauf zu haben, davon verschont zu werden. Die zahlreichen Vertreibungen von Hauptbahnhöfen, Innenstädten und Flughäfen (siehe Hamburg) gehören dazu. Dabei sollte sich jeder klar sein, dass er/sie auch nur ein, zwei Jahre Arbeitslosigkeit von Harzt 4 entfernt ist. Diese Abstiegsangst trägt sicherlich auch ihren Teil zur Entsolidarisierung bei.

    Mal einige Zeit in der örtlichen Bahnhofsmission und bei einer Essensausgabensstelle für Obdachlose zu arbeiten rückt vielleicht wieder die Perspektive zurecht.

    Es kann sich stattdessen auch ein jeder überlegen, wie er/sie von einem Regelsatz von € 399,- für den Lebensunterhalt (also ohne Miete) monatlich auskommen würde. Und nein, der Strom wird nicht vom Amt bezahlt.
    Wer mehr Sozialpolitik in seiner Timeline haben möchte, dem kann ich empfehlen, regelmäßig Stefan Sell zu lesen: https://twitter.com/stefansell

  10. Ja, sie begnügen sich nicht mehr damit, nur Obdachlose zu vertreiben. Jetzt vertreiben sie sogar gleich den ganzen Haupbahnhof. Sogar ganze Innenstädte und Flughäfen sind schon vertrieben worden! Und zwar zahlreich.

    Aber wenn es ums Perspektive zurechtrücken geht, lohnt auch mal der Blick ins Ausland. In vielen europäischen Ländern gibt es überhaupt keine Grundsicherung. Da finde ich 399 EUR im Vergleich zu 0 EUR schon ganz gut.

  11. Ich teile die Schwachstelle für ältere arme Frauen und kenne zufälligerweise besagte Verkäuferin aus Altona.
    Lebe ebenfalls in Berlin und hatte mich schon etwas an die vielen Pappbecher gewöhnt bis meine Mutter zu Besuch kam. Einige Tage unterwegs mit ihr in öffentlichen Verkehrsmitteln, ihre Schockierheit und ihr Mitgefühl hatten Einfluss auf mich. Ich teile das Mitgefühl schon immer, sagte aber zu ihr den typischen Satz: “aber ich kann doch nicht jedem was geben!” Sie fragte: “warum nicht?” Seit dem mache ich es. Jeder, der mich um Geld bittet, bekommt etwas. Je nachdem wieviel Kleingeld ich bei mir trage. Manchmal sind das nur 10 cent. Wenn ich “Pech” habe ist es ein 2 Euro Stück. Ich bin nicht arm davon geworden, von diesem Prinzip. Ich merke es nicht und zähle nicht mit. Ich fühle mich dadurch auch nicht wie der großartigste Mensch der Welt und es ist mir klar, dass ich wahrscheinlich weniger etwas für die Menschen tue, als für mich selbst, weil es sich gut anfühlt, Menschen in Not wenigstens für einen kurzen Moment glücklicher zu machen. Das geht mit geschätzen 10-40 Euro im Monat wohl nicht einfacher als so. Die Reaktionen auf meine “Großzügigkeit” beschämen mich regelmäßig.

  12. @Bee
    Letztlich ist es die Oma, die das gegenwärtige System (Hartz bzw. Sozialhilfe) stabilisiert, denn keiner will ein Schwein sein, keiner will aber was tun müssen, also glauben die Menschen lieber, dass es sich um besondere Einzelfälle handelt, als das ein Versagen auf breiter Linie vorliegt, dass nur hervorragend kaschiert ist. Jeder bekommt doch, was er nötig hat, nicht wahr? Die Oma will also sicher nur was dazu verdienen für den Enkel oder trinkt oder schämt sich auf’s Sozialamt zu gehen, oder … etc. eben Fälle, die das System eigentlich leicht lösen könnte, wenn die Betroffenen es nur richtig in Anspruch nehmen würden. Dass es von vornherein nicht reicht kommt gar nicht auf den Radar. Dass jemand, obwohl in Heimbetreuung, fast verhungert, weil er das Geld für notwendige Fahrten zur Zahnbehandlung nicht hat, undenkbar in Deutschland!
    http://www.ra-klose.com/html/sg-r-s16so-4-14er.html

    Nun gut, da hat ein Gericht gerade noch die Notbremse gezogen. Die ermitteln ja gottseidank immer gründlich und stellen den Sachverhalt fest, wie er im Einzelfall wirklich ist. Dass ein Gericht sagt, “Von so einer Bedarfslücke haben wir ja in all den Jahren noch nie gehört, das kann es gar nicht geben” und dann gar nix mehr ermittelt, kann man natürlich ausschließen. Meint man.
    “Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung in Bezug auf Zahnersatz ist seit mehreren Jahren in der Grundkonzeption unverändert. Verfassungsrechtliche Bedenken mit Blick auf das Niveau des durch die oben zitierten Vorschriften des Krankenversicherungsrechts gewährten Gesundheitsschutzes i.S.d. Art 2 GG werden soweit ersichtlich weder in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch in der Kommentarliteratur geäußert. Hätte der Gesetzgeber hier insbesondere für Hilfeempfänger nach dem SGB XII Änderungsbedarf gesehen, hätte es ihm freigestanden, im Rahmen der Neufassungen des § 31 SGB XII auch Leistungen für Zahnersatz gesondert aufzunehmen. …
    Scheidet ein Anspruch der Klägerin schon aus rechtlichen Gründen aus, bestand kein Anlass für weitere Sachaufklärung auf medizinischem Gebiet.” https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=170248

    “Eingehüllt in feuchte Tücher,
    prüft er die Gesetzesbücher
    und ist alsobald im klaren:
    Wagen durften dort nicht fahren!

    Und er kommt zu dem Ergebnis:
    »Nur ein Traum war das Erlebnis.
    Weil«, so schließt er messerscharf,
    »nicht sein kann, was nicht sein darf!«”

    http://ingeb.org/Lieder/palmstre.html

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